«Neue Formen von Literatur entstehen»

Seit Juli 2014 führt das Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek ein Digitalisierungsprojekt durch. Ziel ist es, den gesamten literarischen Nachlass des Autors zu digitalisieren und die Metadaten in der Archivdatenbank Max Frisch-Archiv Online zugänglich zu machen. Im Interview gibt Tobias Amslinger, Leiter des Archivs, Auskunft über das Projekt und die Zukunftsperspektiven.

Hat ein analoges Literaturarchiv noch Zukunftsaussichten?

Unbedingt. Die Kernaufgabe eines Literaturarchivs wird auch künftig in der Bewahrung physischer Originale bestehen. In unserem Bestand finden sich unersetzbare Unikate, Kulturgüter von nationaler Bedeutung. Diese Originale werden durch die Digitalisierung geschont, denn künftig können die meisten Benutzerinnen und Benutzer mit Digitalisaten arbeiten. Es wird allerdings immer Forschungsfragen geben, für die der Zugang zum Original unabdingbar ist. Zum Beispiel, wenn jemand sich für die Materialität von Frischs Typoskript-Collagen interessiert. Die digitale Nutzung ersetzt die physische nicht, sondern erweitert sie um neue Recherche- und Zugangsmöglichkeiten.

Wo ist ein digitales Literaturarchiv?

Auch digitale Daten haben ihren Ort in der physischen Welt. Sie müssen auf Servern gespeichert werden. Das erfordert eine komplexe und wartungsintensive technische Infrastruktur. Das Max Frisch-Archiv hat seinen Sitz an der ETH-Bibliothek und speichert seine Daten entsprechend auf den Servern der ETH Zürich.

«Derzeit lässt sich eine Pluralisierung des Literaturbegriffs feststellen.»

Ist es ein Ziel, ein ortsunabhängiges Literaturarchiv zu schaffen?

Mit der Digitalisierung ist für viele Nutzerinnen und Nutzer das Versprechen eines zeit- und ortsunabhängigen Zugriffs verbunden. Die ETH-Bibliothek bietet mit Plattformen wie e-manuscripta.ch, e-rara.ch und E-Periodica bereits einen unkomplizierten Zugriff auf einen wachsenden Bestand an älteren historischen Beständen aus der ganzen Schweiz. Das Max Frisch-Archiv erlaubt mit der Bilddatenbank E-Pics einen Einblick in 4000 Fotos aus dem Archiv. Für die Zukunft planen wir die Schaffung eines ‚virtuellen Lesesaals‘, in dem auch Handschriften und Typoskripte online eingesehen werden können. Da bei einem Autor wie Max Frisch und seinen vielen Korrespondenzpartnern jedoch Urheber- und Persönlichkeitsrechte gewahrt werden müssen, stehen wir nicht nur vor technischen, sondern auch vor rechtlichen Herausforderungen.

Das Max Frisch-Archiv digitalisiert zurzeit seine Bestände. Gibt es danach noch weiterführende Projekte im digitalen Bereich? 

Der erste Schritt besteht für uns in der Digitalisierung und Erfassung aller Bestände in unserer Archivdatenbank Max Frisch-Archiv Online. In einem zweiten Schritt werden wir unsere Metadaten mit anderen Datenbanken vernetzen, sodass man über verschiedene Einstiegspunkte Zugang zu unseren Metadaten erhält. Die Verknüpfung von Daten über das Internet ist heute einer der grossen Trends in der Archivwelt. Forschende erhalten durch zentrale Suchmaschinen einen Überblick über Dokumente, die in Archiven auf der ganzen Welt verteilt sind.

«Es ist ein anderes Erlebnis, die Tinte auf dem Papier zu sehen.»

Gäbe es Möglichkeiten, die VR (Virtual Reality)-Technologie in naher Zukunft für Literaturausstellungen einzusetzen? Oder allgemein für digitale Ausstellungen ohne physischen Ausstellungsraum? 

Museen reichern ihre Exponate bereits heute mit digitalen Zusatzinformationen an. Umgekehrt werden virtuelle Ausstellungen und innovative Präsentationsformen im Netz wichtiger. Die ETH-Bibliothek hat mit der Plattform Explora in diesem Jahr eine neue digitale Erlebniswelt geschaffen. Meine Einschätzung ist, dass sich digitale und physische Präsentationsformen in Zukunft gegenseitig ergänzen werden. Für die Besucher bleibt der Wert des Originals aber von besonderer Bedeutung. Es ist ein anderes Erlebnis, die Tinte auf dem Papier zu sehen, als auf einem Computerbildschirm oder durch eine VR-Brille.

Die Max Frisch-Stiftung gibt regelmässig Editionen aus dem Archiv heraus. Zuletzt erschien bei Suhrkamp der Band „Wie sie mir auf den Leib rücken!“. Er versammelt Gespräche und Interviews des Autors. Sind digitale und interaktive kritische Ausgaben von Werken Frischs ein Thema für das Archiv? 

Digitale Editionen gewinnen zunehmend an Bedeutung und werden in der literaturwissenschaftlichen Fachwelt breit diskutiert. Wir beobachten diese Entwicklung aufmerksam und schaffen mit der Digitalisierung die technische Grundlage für mögliche digitale Editionen.

 

Welchen Mehrwert schafft der technische Fortschritt für Literaturarchive? 

Sobald Digitalisate vorhanden sind, können wir in Sekundenschnelle darauf zugreifen und diese zugänglich machen. Es entsteht ein enormer Zeitgewinn gegenüber der physischen Nutzung. Archivalien müssen nicht mehr im Magazin ausgehoben werden und bleiben dort geschützt. Unsere Archivdatenbank ermöglicht den Benutzerinnen und Benutzern eine umfassende Recherche und die Vorbestellung von Dokumenten, sodass sie sich optimal auf ihren Archivbesuch vorbereiten können.

Welche Kosten und welchen Nutzen bringt die Digitalisierung mit sich?

Die Digitalisierung des gesamten Nachlasses von Max Frisch ist wie jedes Digitalisierungsprojekt zeit- und kostenintensiv. Sie ist jedoch die Voraussetzung dafür, unseren Benutzungsbetrieb zukunftsfähig zu gestalten. Studierende der jüngeren Generation erwarten heute selbstverständlich, dass sie sich online einen Überblick über unsere Bestände verschaffen können. Zeitungsredaktionen, die ein Bild aus unserem Bestand drucken möchten, benötigen dieses binnen kürzester Zeit in digitaler Form.

Die Digitalisierung vereinfacht die Zugänglichkeit der Bestände, soll aber auch deren langfristige Existenz sichern. Sind der schnelle technische Wandel und die unklare Zukunft von Dateiformaten ein Problem?

Die Langzeitarchivierung ist tatsächlich eine der grossen Herausforderungen, nicht nur für die Archiv- und Bibliothekswelt, sondern auch für Forschende, die zunehmend digitale Daten erzeugen. Einige Dateiformate wie PDF/A und TIFF gelten als archivtauglich und versprechen eine lange Lesbarkeit. Digitale Daten müssen aber immer wieder gesichert und migriert werden, damit sie erhalten bleiben. Als Archiv sind wir mit ganz neuen Fragen der Bestandserhaltung konfrontiert, die die alte Papierwelt noch nicht kannte. Wir arbeiten deshalb eng mit der Fachstelle Digitaler Datenerhalt an der ETH-Bibliothek zusammen.

«Die Digitalisierung belebt das Interesse an der gedruckten Literatur.»

Immer mehr Inhalte sind nur noch oder zumindest vorwiegend digital verfügbar. Wie sorgt man dafür, dass Literatur trotzdem fassbar und erlebbar bleibt?

Die Digitalisierung, die praktisch in allen Lebensbereichen Einzug hält, führt in meinen Augen gar nicht zum Verschwinden der gedruckten Literatur, sondern belebt das Interesse an ihr gerade neu. Der Markt für gedruckte Bücher ist nach wie vor sehr gross und viele Leserinnen und Leser verbinden ihr Lektüreerlebnis mit der Buchform. Das sinnliche Erleben von Literatur wird von einigen Verlagen geradezu kultiviert, indem sie typographisch aufwendige Ausgaben herausbringen. Auch in den Kulturwissenschaften lässt sich ein verstärktes Interesse an der Materialität von Literatur beobachten. Archive leisten ihren Beitrag, indem sie die zugehörigen Artefakte bewahren und für die Forschung, aber auch für die breite Öffentlichkeit zugänglich machen. Ausstellungen und Führungen sind hierbei von besonderer Bedeutung. Womit ich gar nicht sagen will, dass Literatur in digitaler Form nicht mehr „fassbar und erlebbar“ wäre. Vielmehr lässt sich derzeit eine spannende Pluralisierung des Literaturbegriffs beobachten. Neue Formen von Literatur entstehen, von E-Books über Twitter-Lyrik, multimediale Online-Zeitschriften und Blogs bis hin zu den Internet-Streams amerikanischer Fernsehserien, die manch einer als Romane des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Und die Digitalisierung von Texten in Bibliotheken und Archiven macht manches wieder zugänglich, was von der Geschichte vergessen wurde. Sie kann den althergebrachten Kanon revidieren.

Führt die Digitalisierung dazu, dass Informatiker irgendwann Archivare ersetzen?

Archivare werden nicht durch Informatiker ersetzt, aber dieses Berufsbild verlangt zunehmend informationstechnische Kompetenzen. Archivare sind in dieser Hinsicht Allrounder, die sich sowohl mit Fragen der Papierrestaurierung als auch mit der Strukturierung von Metadaten auseinandersetzen können.