Seltene Tropen

«Ne me quitte pas!» Der Kehrreim des unvergesslichen Sängers Jacques Brel wäre wohl kaum so erschütternd, wenn in seiner Stimme nicht die Gewissheit anklänge, dass der Wunsch vergebens ist. Wer immer dies singt, ist bereits verlassen worden. Und darum erreicht die rhetorische Figur des «Ne me quitte pas» ihre Wirkungsmacht gerade in der Einsicht, dass sie keine erfolgreiche Sprechhandlung sein wird.

Eine Figur, welche dem Offensichtlichen widerspricht, zeigt ihre Ohnmacht gegenüber der Welt. Und doch ist sie ermächtigend. Denn sie stellt dem Unveränderlichen eine Alternative entgegen. Anders als die erotische Figur der Präteritio – «Ich spreche nicht von Deinen Lippen…» – und anders als die Figur der Aposiopese, die das Wesentliche verschweigt (sie geistert in der Marquise von O... herum), ist die Figur, die das Offensichtliche verneint, eine tragische.

«Aber sie schläft doch nur.» Den Tod für einen Schlaf auszugeben, ist nicht bloss menschliche Schwäche. Sie ist ein rhetorisches Kalkül, das Deutungsherrschaft zurückfordert. Die Sehnsucht danach, den Tod zu besiegen, ihm mit Worten zu widersprechen, hat religiösen Glauben hervorgebracht:

«Als Jesus in das Haus des vornehmen Mannes kam und die Flötenspieler und das Gedränge um sich herum sah, sprach er: Geht hinaus! Das Mädchen ist nicht gestorben, es schläft. Da lachten sie ihn aus. Als man die Leute hinausgeschickt hatte, ging er hinein, nahm ihre Hand, und das Mädchen stand auf» (Mt 9, 23–26).

Eine Literatur, die ihren Wunderglauben aufgegeben hat, muss für Erlöserworte eine neue Funktion erfinden. Entweder sie verdrängt solches Gerede in den Wahnsinn bzw. in den Liebesrausch, oder sie erkennt ihm eine politische Dimension an.

Eine Literatur, die ihren Wunderglauben aufgegeben hat, muss für Erlöserworte eine neue Funktion erfinden.

«Ich bin nicht Stiller.» In der Contradictio in aperto widersetzt sich ein tollkühner Held seinem Schicksal – behauptend, dass im Gegenteil des Offenbaren eine zukünftige Wahrheit glimmt. Seit Plato wissen wir, dass die Dichter lügen. Jedoch verliert die Lüge, die für jeden als solche erkennbar ist, die Intention der Täuschung. «La Suisse n’existe pas», «Amerika gibt es nicht». In der Verneinung kann ein Gedanke aufscheinen, die Provokation eines Gedankens, die poetische Forderung eines Gedankens.

«Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.» Die Lüge von Walter Ulbricht wurde erst hinterher zu einer offensichtlichen. Tragisch war sie nie. Dasselbe gilt für die sogenannt alternativen Fakten. Sean Spicers Behauptung «the largest audience ever to witness an inauguration» machte ihn nicht etwa zu einem grossen Redner, sondern bloss zum Esel.

Die Figur der Contradictio in aperto kann leicht ins Lächerliche abgleiten. Sie ist auch ein beliebtes Element der Komik, etwa im Sketch von Monty Python, in welchem sich zwei Männer darüber streiten, ob der eben erworbene Papagei (Norwegian Blue) tot sei. «This parrot is dead» – «No, no, he’s resting». Die Evidenz, dass hier Offensichtlichem widersprochen wird, ist Teil der Szene. Im Monty Python-Sketch liefert das Bild diese Evidenz.

Die Contradictio in aperto braucht eine solche Evidenz, die im Kontext der Figur die Tatsachen sichtbar macht, denen widersprochen wird. Kontext und Figur arbeiten da gewissermassen gegeneinander an. Sie erzeugen eine Spannung, aus der Bedeutung erst noch gemacht werden muss. In einem Sonett von Robert Gernhardt, das mit dem Vers endet: «Ich find Sonette unheimlich beschissen», entlädt sich diese Spannung in einem eleganten Witz.