Das Gefühl der Immersion

Mit dem Controller in der Hand sitzt man auf dem Sofa, gefesselt von den fantastischen Bildwelten und Geschichten einer virtuellen Realität, die mit immer neuen Abenteuern lockt. Dieses Gefühl entsteht durch Immersion, durch die Erfahrung, in eine simulierte Welt einzutauchen. Immersion ist ein metaphorischer Begriff, der von «Eintauchen in Wasser» abgeleitet wurde und den Zustand beschreibt, komplett von einer anderen Welt umgeben zu sein (Vgl. Murray 1997, S. 98f.).

Dem Controller kommt für dieses immersive Spielgefühl eine wichtige Rolle zu, er übersetzt Handbewegungen des Spielers in Bewegungen des Avatars und wird dadurch zu einer Substitution des menschlichen Körpers. Marshall McLuhan beschreibt dieses Phänomen am Beispiel des Rades, dass als Ersatz des Fusses fungiert und somit selbst zum Fuss wird (Vgl. McLuhan 1964, S. 52). Im Videospiel wird jedoch nicht nur ein Teil des Körpers ersetzt, sondern der ganze – in Form des Avatars. Technologie wird zur Verlängerung menschlicher Sinne und zu einer Verlängerung des Menschen selbst (Vgl. ebd., S. 19 und S. 26). Die Beziehung zwischen Avatar und Spieler kann dabei variieren. Zum einen ist der Avatar Teil de* Spieler*, zum anderen existiert er separat von diese* – er handelt nicht ohne Befehle zu erhalten. Neueste Studien zeigen, dass d* Spiele* sich für verschiedene Rollen entscheiden kann: Zwischen eine* Schauspiele*, de* versucht, möglichst den Charakter des Protagonisten nachzuempfinden und dabei dessen Gefühle zu simulieren oder der Projektion des eigenen Charakters auf den Avatar (Vgl. Waggoner 2009, S. 11). Beide Varianten erfordern jedoch ein Hineinfühlen in den Charakter. Ob die Spielweise nun der Person selbst oder dem Avatar entspricht, beeinflusst nicht die Qualität der Immersion. Gestützt wird diese These von Janet H. Murrays Forschungen, in der sie zum Schluss kommt, dass Immersion ein Aspekt des Videospiels ist, der vom Spieler gewollt ist und aus dem Wunsch entsteht, Fantasien auszuleben, die nur in fiktionalen Welten möglich sind (Vgl. Murray 1997, S. 98).

Dem Controller kommt für dieses immersive Spielgefühl eine wichtige Rolle zu.

Die Übertragung des eigenen Selbst auf die Spielfigur ist allerdings nicht nur durch den Controller, sondern auch auf einer rein bildlichen Ebene möglich und zwar durch die Perspektive. In Caspar David Friedrichs Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818) zum Beispiel, ist eine einzelne Figur zu sehen, die auf einem felsigen Gipfel steht und in die Ferne sieht (Abb. 1). Sie dreht dem Betrachter den Rücken zu, das Gesicht bleibt verborgen. Der Blick driftet ins Unendliche. Der Mann versperrt den Blick, steht jedoch zugleich am gleichen Ort, an dem de* Betrachte* stehen würde; er vertritt ihn/sie sozusagen. Die Perspektive der Rückenfigur gestattet es ihm/ihr, sich selbst als Projektion im Wanderer wiederzufinden (Vgl. Leppien 1993, S. 16).  Auf dieselbe Darstellungsweise trifft d* Spiele* z. B. im Witcher 3: Wild Hunt (Abb. 2). Der Protagonist dieses Spiels bleibt im Spielmodus eine Rückenfigur, die darüber hinaus stets in der Mitte positioniert bleibt. Daraus ergibt sich eine bildliche Übertragung des eigenen selbst. In Witcher 3: Wild Hunt ist sie der Schlüssel für ein immersives Spielerlebnis, denn erst dadurch wird die virtuelle Umgebung erfahrbar gemacht. Es wäre theoretisch denkbar, dass die Perspektive so gestaltet ist, dass der Spieler sich selbst spielt und hinter dem Protagonisten herläuft. Aufgrund der auditiven Ebene kann dies allerdings ausgeschlossen werden. Allein die Bewegungen des Protagonisten sind zu hören. Der Spieler hinterlässt keine Geräusche und wird unsichtbar. Seine Geräusche werden zu denen des Protagonisten; ein Aspekt, der das Identifikationspotenzial und somit auch die Immersion begünstigt.

Die Perspektive der Rückenfigur gestattet, sich als Betrachter* in der Projektion wiederzufinden: Caspar David Friedrichs «Der Wanderer über dem Nebelmeer» (Bild: Wikimedia Commons), resp. das Videospiel «Witcher 3: Wild Hunt» (Bild: winboard.org)

Friedrichs Landschaften werden oft mit dem Erhabenen in Verbindung gebracht. Auch Immanuel Kant spricht in der Kritik der Urteilskraft von einem Gefühl des Erhabenen (Kant 1990, § 24, S. 91). Dieses gründet auf das Erleben eines zweistufigen Prozesses und zwar zunächst das Scheitern «des sinnlichen Vermögens, auf welches hin die Vernunft zur spontanen Anwendung von Ideen angeregt wird» (Awe 2012, S. 366). Das Scheitern des sinnlichen Vermögens basiert auf dem Unvermögen, die Dimension des zu betrachtenden Objekts wahrnehmen zu können (Vgl. Ebd., S. 366f.).  Bei Friedrich entspricht dies der Unvorstellbarkeit der unendlichen Weite im Bild. Wie in Abbildung zwei zu erkennen ist, werden auch in Witcher 3: Wild Hunt solche Ausblicke genutzt, um die Illusion unendlicher Weite zu schaffen. Daraus ergibt sich für die Spielenden ein Gefühl der Erhabenheit, das nicht zuletzt aber auch mit Furcht verbunden ist (Vgl. Awe. S. 366 und S. 371). Diese Empfindung wird bei Kant im Speziellen als das dynamische Erhabene kategorisiert (Vgl. Kant 1990, § 28, S. 106f.) Es basiert auf der Prämisse, dass das leibliche Wohl des Betrachters nur scheinbar, d. h. in seiner Vorstellung gefährdet wird. Hierbei ist nicht so sehr die Grenze der Vorstellungskraft wichtig, sondern «die Erkenntnis der Grenzen des physischen Vermögens angesichts einer Übermacht» (Awe 2012. S. 371). Das Erhabene bildet sich in der Erkenntnis, dass der Mensch solchen Gefahren mit einem stoischen Willensheroismus entgegentreten kann und damit die Vernunft (als Mittel zur Erkenntniserlangung) auch über diese Übermacht zu triumphieren vermag.

„Denn was ist das, was selbst dem Wilden ein Gegenstand der Bewunderung ist? Ein Mensch, der nicht erschrickt, der sich nicht fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, zugleich aber mit völliger Überlegung rüstig zu Werke geht“ (Kant 1990, § 28, S. 108).

Die Erkenntnis veranlasst den Betrachter, die unbehagliche Vorstellung in eine positive zu kehren, wodurch ein Gefühl der Heiterkeit entsteht (Vgl. ebd., S. 371 und S. 373). Das gefahrlose Auseinandersetzten mit lebensbedrohlichen Situationen macht das dynamische Erhabene von Kant mit Videospielen vermeintlich vergleichbar. Die Gefahr ist nicht real und wird aus der Distanz kontempliert. Durch die Projektion des eigenen Ichs auf den Protagonisten werden die physischen Grenzen des Spielers jedoch aufgehoben. Er ist plötzlich im Besitz unglaublicher Fertigkeiten und Kräfte, denen nicht einmal Übermächte etwas anhaben können. Die Heiterkeit entsteht nicht durch das Erkennen physischer Grenzen und dem Wissen, dass der Mensch fähig wäre, diesen heroisch entgegentreten zu können, sondern mehr durch die Möglichkeit, die Grenzen des Menschseins zu überwinden und der Gefahr gewissermassen auf reale Art und Weise entgegenzutreten. Die Übertragung des Ichs führt folglich zu einem Erhabenheitsgefühl, das nicht kontempliert, sondern erlebt wird. Dieses Prinzip lässt sich auf andere Aspekte des Spiels übertragen. Dadurch, dass der Avatar optimiert ist – er ist stärker, muss nicht schlafen oder essen und verfügt über schärfere Sinne als ein Mensch – ist es den Spielenden möglich, sich diese augmentierte Lebensform nicht nur vorzustellen, sondern sie auch zu erleben. Er nimmt nicht mehr in der 'realen Welt' wahr, sondern passt sich an die neue Umgebung an. Die dabei entstehende Immersion ist kein vom Körper losgelöstes Erlebnis: Zum einen fühlt der Spieler durch die Vibrationen des Controllers ein körperlich wahrnehmbares Feedback auf bestimmte Spielsituationen, zum anderen werden gesellschaftliche und sinnlich verankerte Erfahrungen als Referenzen herangezogen. Daraus ergibt sich ein fliessender Austausch zwischen realer und virtueller Welt (Vgl. McLuhan 1964, S. 33).

 

Bibliographie:

Awe 2012: Jens Awe, Das Erhabene in Schillers Essays zur Ästhetik. Stilistische Praxis, essayistische Strategien, ästhetische Theorie, Freiburg i.Br. 2012.

Kant 1990: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1990.

Leppien 1993: Helmuth R. Leppien, Caspar David Friedrich in der Hamburger Kunsthalle, Stuttgart 1993.

McLuhan 1964: Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extension of Man, New York 1964.

Murray 1997: Janet H. Murray, Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, New York 1997.

Waggoner 2009: Zach Waggoner, My Avatar, My Self: Identity in Video Role-Playing Games, London 2009.