Du in Paris

Ich kann mir dich in deiner Pariser Wohnung nicht vorstellen. Bestimmt läufst du barfuss auf dem Parkett und deine Knöchel knacken leicht bei jedem Schritt. Ich habe deine Schritte in jedem Raum gehört. Du schreibst, die Wohnung sei winzig. Das habe ich neben einem Bild gelesen, auf dem du deine nackten Beine fotografiert hast, die an einer Wand lehnen.

Ich sehe, du kaufst dir Blumen und stellst sie in dein Zimmer. Weil dich die kleinen Dinge glücklich machen, meinst du. Und: Weil sie den Duft des Frühlings ins Haus tragen. Ich scrolle weiter mit dem Daumen nach unten. Ich sehe, du isst erstaunlich oft kleingeschnittene Früchte.

Deine Haare sind lang geworden. Sie glänzen im Sonnenlicht. Du gehst oft an der Seine spazieren. Dabei blickst du übers Wasser oder direkt ins Licht, das dann deine Haut ganz makellos erscheinen lässt. Ich kann dein Gesicht sehen. Es ist, als würdest du mir zuzwinkern, doch dein Mund, deine Augenlider, die Nase, alles ist wie erstarrt. Die Narbe, die deine Augenbraue unterbricht, ist nicht zu erkennen. Du musst sie übermalt haben.

Ich schick dir sogar beschissene Regenbögen und ein Bild von mir vor einem Spiegel.

Kannst du dich noch an diese Nacht erinnern, die wir im Garten unserer Eltern verbracht haben? Wir durften im Zelt draussen schlafen. Wir hatten uns geschworen, die ganze Nacht aufzubleiben. Ohne Fingerkreuzen. Sollte jemand einschlafen, würde die andere sie wecken. In unseren Schlafsäcken lagen wir und haben an Salzstangen geknabbert. Wir legten blaues und grünes Papier auf die Taschenlampe und leuchteten auf die Zeltwände. Dann hast du mir Schauermärchen erzählt und dabei geflüstert. Vom Geisterpferd, das rote Augen hat und keine Haut. Wenn es den Kopf zu einem wendet, sieht man die bleckenden gelben Zähne, das Gesichtsfleisch und die Bänder, an denen die Augäpfel hängen. Du hast gelacht, als ich Angst bekam. Als ich das Wiehern im Rauschen der Blätter hörte. Dann hast du die Taschenlampe ans Kinn gehalten, so dass das Licht fratzenförmige Schatten auf dein Gesicht warf. Du hast nicht aufgehört zu wiehern, als ich mein Gesicht in den Armen vergrub. Deine schrillen Schreie an meinem Ohr. Erst als ich mich nach hinten warf, um dich abzuschütteln, hast du aufgehört. Ich habe dir die Taschenlampe dabei ins Gesicht gerammt, das Blut ist dir die Wange hinabgeronnen.

Ich träume oft von dir. Einmal habe ich geträumt, dass du der Seine entlangläufst, dich dann umdrehst und mich fragst: Warum sprichst du eigentlich mit mir, wenn ich dich nicht höre?

Wir hatten uns geschworen, die ganze Nacht aufzubleiben. Ohne Fingerkreuzen.

Du siehst glücklich aus. Du lächelst mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Du bist auch schön, wenn du gerade erst aufgewacht bist. Neben dem Bild behauptest du ungeschminkt zu sein, doch ich sehe, du hast die Wangen bemalt und deine Wimpern getuscht. Vor dem Louvre guckst du ernst und konzentriert. Den roten Schal, den du da anhast, habe ich noch nie an dir gesehen.

Ich schreibe dir Fragen. Ich erzähle dir, dass heute die Milch über war, die ich in die Schale goss. Weisse Klumpen auf meinen Cornflakes. Ich schicke dir Kätzchen mit Herzaugen. Ich sende dir eine Sonne mit Gesicht. Ich schicke dir sogar beschissene Regenbögen und ein Bild von mir vor einem Spiegel. Doch mein Bildschirm leuchtet weder grün noch blau, nur die Wolken, die im Fenster an mir vorbeiziehen, reflektieren sich darauf.