Ein Tag

Als ich ins Bett gehe, denke ich als letztes, dass K. bestimmt die übriggebliebenen zwei Scheiben des Nussbrotes essen wird – was ich ihr gleichtäte, würde ich für einmal früher als sie aufstehen. Fast animiert es mich dazu. Mein Wecker läutet um acht, und wie vernünftig mir das am Abend zuvor erschien, desto halsbrecherischer dünkt es mich jetzt. Ich stelle ihn auf neun Uhr, auf zehn Uhr. Wie ein schweres Tier rolle ich mich aus dem Bett, schlurfe in die Küche und erspähe die letzten Brosamen, zusammen mit dem zusammengeknüllten Brotpapier. Ich beschliesse hier, dass mein Tag nur erfolgreich werden kann, wenn er mit frischem Brot beginnt.

Im Schlafmantel drehe ich mich wohlig zwischen goldenen Äpfeln und sattgrünen Fertigsalatpackungen. Als Mischwesen aus Schlaftier und verkleidetem Büromensch mache ich mich auf den Weg ins Konsum, wie meine Grossmutter sagen würde, und finde mich in einem warmbeleuchteten Auslageparadies. Was man alles wählen kann!

Ich drücke den Altersdurchschnitt wesentlich nach unten; mit meinen zusammen wursteln viele ältere Hände in den Kühlablagen, belästigen Gemüse mit prüfenden Griffen, halten zitternde Einkaufslisten. Hier möchte ich eigentlich gar nicht mehr fort – ich beginne, das Lied mitzusingen, das angenehm leise im Hintergrund säuselt, wobei ich besonders viel Gefühl in die Zeile lege, in welcher vollkommen richtig gesagt wird, dass love auch viel mit torture zu tun hat.

Ich kaufe 1 Weinländerbrot, 1 Milch, 1 Wattepackung, 1 Orange, 1 Karton Eier. Draussen auf der Strasse ist alles kalt und ungemütlich, der Regen peitscht mir ins Gesicht. Ich drehe mich sehnsüchtig nach den orangefarbenen Buchstaben um, die bereits in der Ferne verschwinden.

Ansprüche eines homosozialen Regenwurms, denke ich, und meine Laune schiebt sich langsam aber sicher einem Tief entgegen.

Zuhause angekommen sitze ich einige Minuten auf dem wackligen Holzstuhl in der Küche, um mich von den Strapazen zu erholen. Dann beginnt die Frühstücksekstase: ich brutzle Eier, streiche unverschämt viel Butter und Aprikosenkonfi aufs Brot, gönne mir gleichzeitig Orangensaft, einen himbeerigen Joghurtdrink und Incarom-Kaffee. Nach zufriedenstellendem Stuhlgang und vor dem Abwasch beginnt mich mein Tag zu langweilen. Ich lese fahrig mehrere Artikel und nerve mich wie immer über R.E.A., der beim Blog einer Tageszeitung schreiben kann, ohne etwas zu können und lese dann missgünstig auf seinem Facebookklotz aus Beton, wie J.S. vom Blog regelrecht «weggehauen» wird, und zwar «inhaltlich wie stilistisch». Ansprüche eines homosozialen Regenwurms, denke ich, und meine Laune schiebt sich langsam aber sicher einem Tief entgegen. Es ist jetzt etwa 12 Uhr. Auf dem Balkon rauche ich eine Zigarette und bin enttäuscht, dass sich die Nachbarin im Nachthemd für einmal nicht blicken lässt, die mich sonst immer ohne Vorwarnung anschreit und mir sagt, wie daneben sie mich findet. «Daneben» gefällt mir als Wort, ich sage es jetzt häufig und nicke fest dazu, ich wäre heute auch durchaus dazu bereit, mich zusammen mit ihr daneben zu finden. Ich warte etwa fünf Minuten und frage mich, ob sie vielleicht gestorben ist und ob ich jemanden anrufen sollte.

Ich möchte gerne den Bogen schlagen zur Tatsache, dass die meiste Fürsorgearbeit von Frauen geleistet wird.

Ich rufe den Freund an, aber nur, um zuerst so zu tun, als wäre ich ganz beschäftigt und in Gedanken bei meiner Arbeit, hätte mir aber selbstlos die Zeit genommen, um inmitten hektischer Momente nach seinem Befinden zu fragen. Diese Phase vergeht manchmal schneller, manchmal langsamer, ich brauche aber immer noch Zeit, mir zu vergegenwärtigen, dass ich den Freund anrufe, vor dem ich ja nicht unbedingt so tun müsste, als sei ich erfolgreich und zielstrebig. Wir reden eineinhalb Stunden über unsere jeweilige Unproduktivität mit einem Einschub darüber, wie viel unser Verhalten in der Beziehung mit Geschlechterrollen zu tun hat. Ich frage mich, ob wir gleichermassen dazu bereit sind, füreinander zu sorgen, und möchte gerne den Bogen schlagen zur Tatsache, dass die meiste Fürsorgearbeit von Frauen geleistet wird, oft unbezahlt und ohne gesellschaftliche Anerkennung. Das Telefon wird heikel bis prekär, ich bin angriffslustig und zu vielem bereit, sitze auf dem Fenstersims und rauche schon wieder, baumle vergnügt mit den Beinen, Konflikte gefallen mir. Wir verabschieden uns leicht genervt voneinander (ich jauchze innerlich).

Ich bin der Minotaurus, du bist der oben mit dem Dings

Ich schaue auf meinen Schreibtisch und zu den ordentlich gestapelten Büchern und Mäppchen, hole den Staubsauger aus dem Wohnzimmer und putze die ganze Wohnung. Jetzt ist es vielleicht drei Uhr. J. schreibe ich, dass ich finde, er sei für ein gutes Abschiedsgeschenk für mich verantwortlich an dem Ort, von dem ich bald weggehe. Er fragt mich, was ich mir wünsche. Ich sage: Das Bild dieser Ausstellung, auf dem Dürrenmatts gedemütigter Minotaurus drauf zu sehen ist. Ich schreibe: Ich bin der Minotaurus, du bist der oben mit dem Dings. Er schreibt «thahaha omfg»und ob ich dieses Bild wirklich wolle. Ja. Halb vier! In einer halben Stunde muss ich auf den Bus zur Physiotherapie. Lese noch ein bisschen Canetti und schicke dir Bilder von jeder Textstelle, bei der ich milde lächeln bis laut herauslachen muss. Hier zwei davon:

«Ein Mann macht sich daran, alle Blätter der Welt zu zählen. Das Wesen der Statistik.»

«Diese Wurmseelen, wie sollen sie begreifen, dass es darauf ankommt, das Geld zu verachten, auch wenn man es braucht!»

Es ist vier, ich packe meine ungefähr zehnjährigen Turnhosen ein und ein ungewaschenes weisses T-Shirt, weil es eh nicht mehr drauf ankommt, drücke etwas Puder auf mein Gesicht und denke, dass ich noch immer nicht weiss, wie man sich eigentlich genau schminkt, springe halbherzig auf den Bus. Im Bus schreibe ich dem Freund und schicke das Bild des Minotaurus, zusätzlich habe ich eine Sprechblase gemalt, in welcher der Minotaurus einen Wunsch äussert. Der Freund antwortet: Weshalb wird die Kreatur angebrunzt? Angebrunzt, denke ich gereizt und möchte schon meinem Ärger Ausdruck verleihen – vielleicht kommt es ja endlich noch zum Konflikt, der erst müde schwelt – da schaue ich mir das Bild genau an. Das, was ich seit etwa sieben Jahren für ein Ding gehalten habe, das einer Angel gleicht, einem Seil, einem Stecken, mit dem sich die sowieso schon gequälte Kreatur zeukeln lässt, könnte es wirklich der Bogen eines Urinstrahls sein? An J. schreibe ich: Du, wird der Minotaurus auf dem Bild eigentlich... angebrunzt??? J. schreibt, ob ich ihn hochnehmen wolle und ob ich das wirklich erst jetzt gesehen habe. Ich frage mich, ob J. mir manchmal gerne auf meinen massigen Stiernacken brunzen würde, da er keinerlei Einspruch erhoben hat, als ich ihm gesagt habe, ich sei der Minotaurus und er der auf der Mauer mit dem «Dings». Dem Freund erkläre ich in einem meisterlichen Satz, was das Tragische am Minotaurus ist, parallel dazu lese ich Dürrenmatts Ballade und nerve mich bereits auf Seite zehn, weil einmal mehr das blasse zarte Mädchen vom bestialischen Mannstier getötet werden muss, quasi als knackige Exposition, bevor richtig losgelegt werden kann.

Sie hebt die Augenbrauen in echter Überraschung, es tut mir wirklich leid, dass sie sich freut.

Im Bus stehen Leute ganz nah bei der Türe, weshalb mehrmals das Geräusch ertönt, das anzeigt, dass die Türe nicht schliessen kann, ich verdrehe die Augen und hoffe leise und verschmitzt, dass es jemand sieht, mich auf einer Skala von eins bis zehn acht bis neun daneben findet und sich mit mir durch die glasige Bustür stürzt und auf dem rauen Beton zu raufen beginnt. Nichts Vergleichbares geschieht, ich steige in der Physiotherapie aufs Velo und strample, bis sich der alte mit dem neuen Schweiss vermischt. Meiner Physiotherapeutin verspreche ich, nach der beendeten Verordnung dreimal in der Woche in ein Fitnesscenter zu gehen, ich wüsste bereits eins, sage ich, sie hebt die Augenbrauen in echter Überraschung, es tut mir wirklich leid, dass sie sich freut. Sie sagt: Wie ist es ausgerüstet, hat es alles, was du brauchst, auch die Leg Press? Ich sage, meinen Stolz nur ungenügend verbergend: Ich war noch nie drin. Ihr Gesicht verfinstert sich, wir verabschieden uns, ich gebe ihr meinen besten, meinen festesten Händedruck, um darüber hinwegzutrösten, dass ich eine miserable Patientin bin, die aus Faulheit nie die Übungen zuhause macht, wofür ich übrigens von meinem gesamten wurmseeligen Freundeskreis sanktioniert werde, was ich, gelinde ausgedrückt, eher daneben finde.

Ungeduscht stecke ich mich in die Kleider, fahre mit dem Zeigfinger über die schweissige Oberlippe, verstreiche etwas Lippenstift auf meinem Mund und schreibe euch, dass ich zu spät komme. Vorher gehe ich noch zum Coop City (hier frage ich mich, wer aus meinem Freundeskreis direkt zur Pizzeria gehen würde, um die Verspätung möglichst kleinzuhalten und wer zusätzlich einen Umweg machte, um keinesfalls die Erwartungen zu enttäuschen), um ein klärendes Gesichtswasser zu kaufen, das um 1 Haar Fabulous Face Water heisst und das ich bei K. im Badezimmerschrank gesehen habe. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich gelassen dem Sportlich- und Schönsein entgegenschlendere, wenn ich nur lange genug leg presse und mit einem von Naturkosmetik getränkten Wattepad energisch über alle Narben drücke, wie das in der Reklame geht. Der Abend ist kurz und schön: Wir essen Pizza Marinara, ich bemühe den Spruch mit dem gedemütigten Minotaurus etwas zu oft, einmal schaust du mich halbernst sanktionierend von der Seite an. Ich bin müde, weil ich so viel gemacht habe. Mit L. treffe ich mich noch zum Wein, wir erzählen unsere Tage voller Details, manchmal würde ich sie gerne von ganz nahe anschauen. Ich verpasse ein Tram, zwei Trams, drei Trams, laufe mit hochgekrempeltem Mantelkragen mit ihr zur Haltestelle (unter der Wetterwolke bin ich der, der laut schreit und keinen Trost findet), ich komme zuhause an, du liegst bereits warm im Bett, ich lege mich zu dir.

Franziska Ranner erfindet alles. Mehrfachinterpunktionen sind manchmal dennoch unerlässlich.