Vicos poetische Metaphysik

«Der Mensch macht aufgrund der unbegrenzten Natur des menschlichen Geistes, wo dieser sich in Unwissenheit verliert, sich selbst zur Regel des Weltalls.» (P120)

So lautet die originelle Formulierung, mit welcher Giambattista Vico, neapolitanischer Philosoph und geistiger Erbe des Italienischen Humanismus, in seiner 1730 als überarbeitete Fassung erschienenen «Scienza Nuova» den Anfang der menschlichen Kultur erzählt. Um das vorkulturelle Chaos des In-der-Welt-Seins zu ertragen, um seine eigene Rohheit und Wildheit zu bändigen (vgl. P385), projiziert sich der Mensch in die Erhabenheit des Alls und bannt diese in der Unmittelbarkeit seines eigenen Körpers.

Der Eintritt ins Religiöse markiert dabei auch den Eintritt ins Recht.

Es ist nach Vico die Leistung der menschlichen Imaginationsbegabung, einer Art kindlichen Phantasie, mit welcher sich alle vorzivilisatorischen Menschen über die Stiftung erster Kulte selbst befrieden. Der Eintritt ins Religiöse markiert dabei auch den Eintritt ins Recht: Ausgehend von einem «gesetzlosen Zustand» gibt erst der Glaube an «die göttliche Vorsehung den Wilden und Gewalttätigen [den] Anlass [...], sich zur Humanität zu erheben und die Völker zu gründen» (P178).

Was dabei aus heutiger Sicht frappiert, ist, wie Vico sich als Anthropologe avant la lettre für ein genuin «poetisches» und «humanistisches» Menschenbild ausspricht, das den Menschen mit schöpferischen Qualitäten ausstattet und zur Kulturstiftung befähigt.

Der Mensch der kindlichen Welt erfindet und glaubt zugleich an die eigenen Fiktionen.

Das grundlegende Prinzip bringt Vico mit Tacitus in die prägnante Form des fingunt simul creduntque (P376): Der Mensch der kindlichen Welt erfindet und glaubt zugleich an die eigenen Fiktionen. Er anthropomorphisiert die furchteinflössende und ihm zunächst unbekannte, unverständliche Welt in einem weitgehend unreflektierten Vorgang, was das Glauben an die eigens aufgestellten Anthropomorphismen ermöglicht. Aus sich selbst heraus erschafft der Mensch so nicht nur neue vermenschlichte Instanzen der Furcht, also Götter, sondern auch eine «Physik der Unwissenden» bzw. eine «Volksmetaphysik» (P182), was die unbekannten natürlichen Vorgänge und deren Ursachen nennt:

«Wenn den Menschen die natürlichen Ursachen unbekannt sind, die die Dinge hervorbringen, und sie diese auch nicht durch ähnliche Dinge erklären können, so schreiben sie den Dingen ihre eigene Natur zu, wie zum Beispiel das Volk sagt, der Magnet sei in das Eisen verliebt [...] und so machen sie aus der ganzen Natur einen ungeheuren beseelten Körper, der Leidenschaften und Begierden empfindet.» (P180/377)

Nach Vico waren «die Menschen der kindlichen Welt von Natur aus erhabene Dichter» (P187), die nicht zuletzt vor allem ihre eigene Sprachlichkeit, ihr zeichenhaftes Wesen, auf die chaotische Welt übertrugen (vgl. P379). Dass gewaltige Erscheinungen wie Blitz und Donner blosse Kontingenzen sein könnten, war eine unerträgliche Vorstellung. Als Teil einer göttlichen Vorsehung hingegen konnten sie als Zeichen gedeutet und gelesen bzw. in Kausalzusammenhänge integriert und verstanden werden. Aus diesem Bedürfnis heraus, so stellt Vico fest, hatte «jedes heidnische Volk [...] seinen Jupiter» (P193).

In der Mythenbildung schufen sich hier die ersten Kulturen ihre Helden als ideale Verkörperungen einer figurativen Tugendethik.

Nach den vichianischen Prinzipien war der Mensch also zuerst ein poetisches Wesen. So etwas wie eine Alltagssprache, die den erhabenen Ursprung der Sprache längst vergessen hat, bildete sich erst in einem zweiten Schritt heraus. Dabei sind die Denkfiguren, mit denen sich die heidnischen Völker ihre Welt erklärten, von durch und durch rhetorischer Natur: So folgte einer Zeit der metaphorischen Übertragung – dem göttlichen Zeitalter – gemäss Vico das heroische Zeitalter, in dem sich anhand metonymischer pars pro toto-Relationen Gattungsbegriffe und exemplarisches Denken entwickelten. In der Mythenbildung schufen sich hier die ersten Kulturen ihre Helden als ideale Verkörperungen einer figurativen Tugendethik vor dem Begriff.

Vicos Epochen-Nomenklatur setzt also gewissermassen eine Evolution der menschlichen Übertragungsleistung voraus. Stiftet das poiein der ersten Dichter zunächst die Ursachen, die den natürlichen Erscheinungen vorangehen, so wendet sich dieses in einem zweiten Schritt einer Ethik des Zukünftigen zu. Das menschliche Handeln richtet sich dann nach den mytho-poetisch erzeugten Idealen, aus denen alle Völker sich später erste Rechtsgrundsätze geben werden.

In Sachen Menschenbild findet sich eine Aussöhnung von humanistischer Idealisierung und machiavellistischer Kritik.

Die grösste rhetorische Brillanz legt Vico wohl aber dort an den Tag, wo es darum geht, die unglaubliche Sprengkraft seiner Ideen mit den Instanzen der christlichen Zensur kompatibel zu machen. Immerhin finden sich in Vicos Umfeld auch Namen von Kollegen, an welchen die Inquisition nicht so glimpflich vorüberging. Überhaupt muss die Genese der Prinzipien Vicos aus dem schwierigen Diskursfeld heraus verstanden werden, in welchem diese entstanden. Sein Schreiben ist nur erklärbar als eine gross angelegte Synthese heterodoxer Lehren(1), die im damaligen Akademikerkreis Neapels zirkulierten: In Sachen Menschenbild findet sich bei Vico gewissermassen eine Aussöhnung von humanistischer Idealisierung und machiavellistischer Kritik. In Fragen der Epistemologie eine Absage an den cartesianischen Methodismus, der metaphysische Einsichten über logisch-rationale Deduktion in Aussicht stellt, genauso aber eine Abkehr von einem rigiden, erkenntniskritischen Skeptizismus(2).

Das Wahre ist nur in der Sphäre des Selbst-Erschaffenen erkennbar.

Vico glaubt an menschliche Erkenntnis, allerdings nur dort, wo der Mensch seine eigenen metaphysischen Wahrheiten, seine eigenen poetischen Projektionsleistungen, ergründet. Die Kategorie der Erkenntnis bleibt bei Vico also dem Schöpfer vorbehalten, das Wahre ist nur in der Sphäre des Selbst-Erschaffenen erkennbar. Diese Denkfigur wird vermutlich auch immer seine berühmteste bleiben und in die Philosophiegeschichte eingehen als verum ipsum factum-Argument.(3)

Sowohl das Zugeständnis an den Klerus als auch Vicos genuine Demut vor der göttlichen Schöpfung verdichtet sich darin, wie das folgende Zitat verdeutlicht:

«Auf diese Weise schufen die ersten Menschen der heidnischen Völker, gleichsam als Kinder des werdenden Menschengeschlechts [...] aus ihrer Idee die Dinge, aber mit einem unendlichen Unterschied zu dem Schaffen, das Gott eigen ist: denn Gott erkennt in seinem reinsten Begreifen die Dinge und schafft sie, indem er sie erkennt; sie hingegen taten es infolge ihrer starken Unwissenheit kraft einer ganz körperlichen Phantasie.» (P376)

Gleichzeitig verortet er all seine Ausführungen zur anthropomorphistischen Selbststiftung der Kultur in einem zeitlichen Danach. Das adamitisch-göttliche Wissen um das Wesen der Dinge (Gen 2.19) geht nach Vico verloren mit dem Austritt aus dem Paradies. Die Sintflut und die Diaspora stürzen das Menschengeschlecht wieder in eine tiefe Dunkelheit, aus welcher es sich erst durch seine sprachschöpferische Begabung selbst zur Humanität erhebt.

Die Grundannahme, dass der Mensch durchaus erkenntnisbegabt ist, lässt die Trennung zwischen Fakt und Fiktion brüchig werden.

Vico gelingt also das bemerkenswerte Kunststück einen humanistischen Selbstermächtigungsgestus, einen sprachlichen Konstruktivismus sowie den klerikalen Kanon in seinem Ideengebäude zu harmonisieren; gleichzeitig positioniert er seine «Scienza Nuova» zwischen Cartesianismus und Skeptizismus. Die Grundannahme, dass der Mensch durchaus erkenntnisbegabt ist, dabei allerdings die Metaphysik, die die Ursachen der Welt erklärt, ein poetisches Artefakt darstellt, lässt die Trennung zwischen Fakt und Fiktion brüchig werden. Vico amalgamiert das Metaphysische mit dem Poetischen:

«Wenn man es richtig bedenkt, [ist] das poetisch Wahre ein metaphysisch Wahres, verglichen mit welchem das physisch Wahre, das nicht damit übereinstimmt für falsch erachtet werden muss. Daraus folgt diese wichtige Bemerkung für die poetische Theorie: dass der wahre Heerführer zum Beispiel der Gottfried ist, den Torquato Tasso ersinnt; und alle Heerführer, die nicht in allem und durchaus mit Gottfried übereinstimmen, sind nicht wahre Heerführer.» (P 205)

Damit kommt Vico als Vordenker eines konstruktivistischen narrative turn infrage.

Es sind also die Metaphern, Übertragungen, Mythen respektive die kollektiv wirksamen Erzählungen, die der Wirklichkeit vorangehen, unsere Vorstellung von dieser speisen und anhand welcher wir diese erfassen und bewerten. Damit kommt Vico durchaus auch als Vordenker eines konstruktivistischen narrative turn infrage. Die grosse Nähe der poetischen Metaphysik Vicos zu den narrativistischen Schlagwörtern mag abschliessend ein Zitat von Albrecht Koschorke exemplifizieren:

«Erzählen [ist] nicht bloss eine reproduktive, den erzählten Inhalten gegenüber nachrangige Tätigkeit [...], kein blosses Rekapitulieren after the fact. Die Pointe des linguistic turn, in dessen Folge auch das Erzählen als semiotische Aktivität interessant wurde, liegt vielmehr in seinem aktivischen Verständnis von Bezeichnungsvorgängen: Das Bezeichnen interveniert in die Welt, die es scheinbar nur widerspiegelt, und lässt sie in einem kreativen Aneignungs-
prozess in gewisser Weise überhaupt erst entstehen. [...] Die entsprechende Devise heisst:
fact follows fiction.» (4)

Erzählen stellt für uns die Möglichkeit dar, das Chaos unserer Existenz zu ertragen.

Das wiedergewonnene Interesse der modernen Vico-Forschung an den hier zitierten Texten lässt sich aus heutiger Sicht also gut erklären. Bereits vor ca. 300 Jahren betonte der neapolitanische Gelehrte die Bedeutsamkeit des Erzählens in vielfacher Hinsicht: Es ist als Produkt der Imagination gewissermassen anthropologische Konstante, es befähigt den Menschen zur Selbstzivilisierung und zur Kunst, ist in epistemologischen Prozessen als konstruktivistisches Moment stets mitzubedenken und zuallererst das Mittel, das Inkommensurable, das Unzusammenhängende und das Sinnlose aus der eigenen Körperlichkeit heraus messbar, kohärent und kausal erscheinen zu lassen. Erzählen stellt für uns heute genauso wie für Vicos «Menschen der kindlichen Welt» die Möglichkeit dar, das Chaos unserer Existenz zu ertragen. ¤


(1): Zur «Heterodoxie» vgl. Vittorio Hösle: Einleitung, in: Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990, 1. Bd., S. IL. Alle Originalzitate in Klammern sind nach dieser Ausgabe zitiert.

(2): Vgl. Alberto Mario Damiani: Die Widerlegung des metaphysischen und politischen Skeptizismus: Vico gegenüber Descartes und Grotius, in: ARSP, Vol. 88, No. 2, 2002, S. 207–215.

(3): Vgl. ebd., S. 207.

(4): Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012, S. 22f.


Tim Huber

studiert noch ein letztes Semester Germanistik und AVL. Trotzdem hört er lieber O.G.C.s «Da Storm» als dass er Shakespeares «The Tempest» liest.