Das Unbehagen an der Ordnung

In den 1920er Jahren waren die Tiller Girls in aller Munde. In sämtlichen namhaften Etablissements in Europa und den USA schwangen die Frauen ihre Beine im Takt der Musik hin und her. In den exakt selben Kostümen, Frisuren und Masken zierten die zum Verwechseln ähnlichen Körper Plakate und Titelseiten von Magazinen und lockten massenweise Publikum in die Theater.  

In der Weimarer Republik sahen einige Intellektuelle im Phänomen der Tiller Girls mehr als eine unschuldige Unterhaltungskultur.

Als Teil der amerikanischen Unterhaltungsindustrie wurden die Tiller Girls schnell zu einem Symbol der Moderne. Überall beriefen sich Künstler*innen auf, überall diskutierten Kritiker*innen die Girls. Insbesondere in der Weimarer Republik sahen einige Intellektuelle im Phänomen der Tiller Girls mehr als eine unschuldige Unterhaltungskultur. 1927 erschien im Feuilleton der Frankfurter Zeitung ein Essay von Sigfried Kracauer mit dem Titel «Das Ornament der Masse». Das berühmte Stück journalistischer Kritik stellt den Versuch dar, dieses kulturelle Phänomen zu dekonstruieren und es als «einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden» zu verstehen. (1)

Eine aus verwechselbaren und anonymen Körpern formierte Struktur.

Die Kritik erkennt in der Aufstellung der Tänzerinnen ein menschliches Ornament; der Akzent liegt jedoch auf der Masse und nicht auf den Menschen. Anstatt einer Gruppe von Individuen sehen wir auf der Bühne nur immer eine «Masse», eine aus verwechselbaren und anonymen Körpern formierte Struktur, ein lebendiges Ornament. Im Gegensatz zu den militärischen Paraden sind diese Figuren nach Kracauer aber jeglicher Sinnzuweisung entzogen – das unterhaltende Ornament ist Selbstzweck.

Kracauer liest die immergleichen synchronen Bewegungen, das Auf und Ab der Beine, die geometrische Anordnung der Tänzerinnen, als einen ästhetischen Reflex des herrschenden ökonomischen Systems. Die im gleichmässigen Takt ausgeführten Bewegungen der Masse sind Manifestationen industrieller Arbeitsabläufe. Im Gewand der Unterhaltungsindustrie sind die rationalisierten Bewegungsabläufe ästhetisiert und mythologisiert.

Ein Blick, der Distanz einnimmt, aber auch einer, dem Macht und Beherrschung miteingeschrieben sind.

Die Verschiebung des Blicks weg von den einzelnen Menschen hin zu einem wohlgeordneten Ornament der Masse ist ein Blick, der Distanz einnimmt, aber auch einer, dem Macht und Beherrschung miteingeschrieben sind. Das Ornament ist nicht von den Tänzerinnen oder den marschierenden Soldaten gedacht. Sie führen bloss aus, und werden so zu beschreibbaren Oberflächen. Als Zuschauer*in treten wir selbst stets in die Position des Mächtigen, wogleich der schöne Schein über das Gefälle hinwegtrübt.

In gewissem Sinne nimmt Kracauer vorweg, was Michel Foucault 1975 auf den Begriff der Disziplinarmacht bringen wird: Der Blick des Anderen ist verantwortlich für die Internalisierung des Machtwillens. 

Das Chaos wird zum Emblem des Ungehorsams, der Rebellion, der Subversion.

Gerade aufgrund unserer Geschichte wecken heute Überformung und Geordnetheit der Körper ein gewisses Unbehagen. Unter der schönen Oberfläche vermuten wir das Schlimmste versteckt. Umgekehrt stellt das Chaos einen eher vertrauenswürdigen Zustand dar. Schriftsteller*innen, die inmitten von Papierlandschaften und Büchern versinken und Maler*innen, die in chaotischen Ateliers in farbverschmutzten Overalls nicht mehr von ihren Bildern zu unterscheiden sind, strahlen Unangepasstheit aus. Das Chaos wird zum Emblem des Ungehorsams, der Rebellion, der Subversion. Das Chaos gehört den Künstler*innen und Schriftsteller*innen, die nicht beschönigen, vertuschen oder Sinn verbieten, sondern kommentieren und kritisieren. ¤


(1): Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. 1977.


Salomé Meier

lebt in Zürich und mehrere Monate im Jahr auch nicht. Plot-Twist: Jeden Montag- und Donnerstagabend übt sie sich in (Partner-)Akrobatik, wo sie zuweilen selbst zum menschlichen Ornament wird.