Hoffnungen und Enttäuschungen auf dem Markt Oerlikon

An der Ecke Ohmstrasse/Querstrasse, von der aus eine kurze Strasse vom Sternen Oerlikon aus zum Marktplatz führt, steht an einem 11. März im Samstagmorgenlicht ein Polizist mit einer erhobenen Maschinenpistole. Er sieht nicht ganz echt aus, aber vielleicht ist er es doch. Neben ihm steht ein junger Mann, dem man ansieht, dass er oft von der Polizei kontrolliert wird, während er gerade jetzt zusammen mit dem Polizisten angestrengt auf einen Punkt in der Mitte der Häuserzeile blickt, auf ein Schaufenster deutend, das sich direkt hinter einem Gemüsestand befindet, denn es ist Samstagmorgen und Markt in Oerlikon. Viele Leute stehen um den Gemüsestand herum. 

Eine Pinguinfamilie aus bepinseltem Karton blickt aus dem Schaufenster auf die Strasse.

Erst jetzt bemerken die Passanten, dass am anderen Ende der kurzen Strasse eine ganze Gruppe von blauen Polizisten mit erhobenen Maschinenpistolen steht, die auf den einen Punkt starren. Es ist das Schaufenster eines Coiffeursalons. Eine Pinguinfamilie aus bepinseltem Karton blickt aus dem Schaufenster auf die Strasse und nimmt alles, was sich draussen bewegt, unbewegt zur Kenntnis, als wäre es seinerseits aus Pappe. Hinter den Pinguinen ist ein Rollladen heruntergelassen, aber so, dass dennoch Licht in den Salon fällt. 

Mit Maschinengewehren treffe man ja nie, was man wolle.

Der blonde Gemüsehändler, von der Präsenz der Waffen seltsam beschwingt, sagt betont fröhlich zu einer Frau, die meint, es sei etwas merkwürdig, zwischen Maschinengewehren in Oerlikon Äpfel einzukaufen, sie müsse keine Angst haben, mit Maschinengewehren treffe man ja nie, was man wolle. Nein wirklich, er kenne sich da aus. Gerade davor habe sie ja Angst, sagt sie. «Warum?», fragt er. Das gehe ja dann schnell, da merke man gar nichts. Er habe im Leben vor nichts Angst. 

«Warte nur, die werden dich noch erschiessen.»

Jetzt kommt ein älterer Gemüseverkäufer und sagt zum jungen Gemüseverkäufer listig und gutmütig: «Was hast du denn wieder angestellt? Warte nur, die werden dich noch erschiessen.» Dieser Scherz ehrt den jungen Gemüseverkäufer und verleiht ihm neuen Schwung, fast tanzt er zum verlangten Gemüse. Gleichzeitig bemüht, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, spricht er ins Gemüsekäuferpublikum, es handle sich hier sicher nur um eine Übung und man müsse keine Angst haben. Er habe sowieso keine Angst, denn er sei im Militär gewesen, das Umgebensein von Waffen sei ihm nicht fremd, er fände es im Gegenteil gut, dass die Polizisten Präsenz zeigten, weil ihnen, den Soldaten, ja die Waffen abgenommen würden, und was solle denn eigentlich ein Soldat ohne Gewehr?

Wie ein einziges, verworrenes, blau gepolstertes Wesen mit vielen leise trippelnden Füssen.

Während er das sagt, beobachten die Leute vor dem Gemüsestand, wie plötzlich Bewegung in die Polizisten kommt. Mit erhobenen Maschinenpistolen bewegen sie sich wie ein einziges, verworrenes, blau gepolstertes Wesen mit vielen leise trippelnden Füssen von beiden Strassenseiten her zum Coiffeursalon. Als handle es sich um eine bis zum letzten Moment verborgene Überraschung treten sie dann die Türe des Coiffeursalons ein und rufen gleichzeitig mit dumpfen Stimmen etwas in den Raum, während der Coiffeurkunde, der vor einem Spiegel sitzt, wie man durch die Rollladenritzen hinter den unbeweglichen Pinguinen erkennen kann, zusammenzuckt, wie in Filmen Leute zusammenzucken, die von hinten in einem Coiffeursalon erschossen werden.

 «Da haben sie sogar einen hingehockt für die Übung», sagt der Gemüseverkäufer etwas enttäuscht, als müsste er bei aller Freude realistisch bleiben. In der Meinung, sie hätten gerade eine Probe aus dem Theaterrepertoire der Polizisten gesehen, verstreuen sich dann einige Gemüsekäufer, während mehrere Familien wie angewurzelt stehen bleiben, als wären plötzlich sie die starrenden Pinguine.

Aber diese stille Andacht hält nicht lange an.

Da kann es der gut gelaunte Gemüseverkäufer nicht mehr aushalten und hüpft zum einzigen Polizisten, der vor dem Coiffeursalon wie ein steinerner Löwe wartet und fragt ihn, ob sich da eigentlich gerade eine Übung oder ein echter Einsatz abgespielt hätte. «Ein echter Einsatz», sagt der Polizist und lächelt diskret. «Also ist es doch ernst», sagt der Gemüsehändler in die Menge, die noch da ist, und es ist, als ob er still geworden wäre vor etwas Heiligem, an das er nicht mehr geglaubt hatte. Aber diese stille Andacht hält nicht lange an. Sein über Jahre genährter Realitätssinn bricht wie ein Schatten über ihn herein, als er meint, heute werde ja wegen dem ganzen Papierkram eh nicht mehr geschossen. ¤


Judith Keller

studiert seit geraumer Zeit Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaften. Davor studierte sie Literarisches Schreiben in Biel und Leipzig. 2017 erschien ihr Debüt «Die Fragwürdigen».