Schieflage

Nachdem Kowalke kurz vor dem Betreten des Busses mitten im Telefonat der noch zu 42 Prozent geladene Handyakku ausgestiegen war und der Bus bei seiner Station eineinhalb Meter weiter vorne angehalten hatte als gewöhnlich – sein Heimweg sich also um eineinhalb Meter verlängert hatte – war ihm klar, dass die Welt heute in Schieflage geraten würde. Die Zeichen waren deutlich. Die Unannehmlichkeiten hatten sich im Laufe des Tages gehäuft und seine Nerven bis aufs Äusserste strapaziert, sodass er erleichtert aufatmete, als seine Wohnungstüre hinter ihm ins Schloss fiel. Schnell zog er seinen nassen Mantel aus, denn draussen regnete es in Strömen, und machte Licht, um den grünlichen Abglanz der Strassenlaterne auf seinen Möbeln zu vertreiben.

Hatte ihm das Leben doch bereits einige Male bösartiges Schnippchen geschlagen.

Wie schlimm die Lage war, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau sagen, lagen doch noch einige Faktoren im Dunkeln und hegte er doch insgeheim die Hoffnung, dass morgen wieder alles im Lot sein würde. Solche unpässlichen Vorahnungen ereilten Kowalke des Öfteren. Des Öfteren blieb er an solchen Tagen auch bis zur Nasenspitze unter der Bettdecke liegen, in der naiven Hoffnung so dem Übel entfliehen zu können, hatte ihm das Leben doch bereits einige Male bösartigste Schnippchen geschlagen. Er erinnerte sich denn auch noch lebhaft an die Frau seines Frisörs, die ihm berichtet hatte, wie ihr Mann Kowalkes Nase am Morgen in seinem Brot gefunden hatte und an die befremdliche Begegnung mit ebendieser an der Bahnhofstrasse. Ja, mit derartigen Misslichkeiten sah er sich konfrontiert.

Ein nervöses Zittern begleitete in seither auf Schritt und Tritt.

Ein nervöses Zittern begleitete ihn seither auf Schritt und Tritt, beherrschte auch seine Stimme und ermahnte ihn dazu, mit Vorsicht durchs Leben zu gehen. An diesem Abend hatte er vor dem Einschlafen nochmals sorgfältig überprüft, ob jedes Glied, jedes Haar und jedes Wärzchen noch an gewohnter Stelle lag. Von der Ordnung seiner Körperpartien überzeugt, schlief er ein.

Den nächsten Morgen begann er mit dem gleichen Spiel und fasste sich zuerst an die Nase, die dann auch wirklich noch Nase war. Ja, das ganze Gesicht schien gewahrt, bewahrt vor nächtlichem Schaden. Kowalke begann sich also langsam zu strecken und zu recken, schien sich allen Gliedern sicher, bis er auch die Füsse in die Höhe streckte und an deren Ende kein feines Zappeln der Zehen mehr spürte. Oder doch? Ein leichtes? Einer? Einer war noch da und war ebenfalls im Begriff sich loszulösen und loszurennen. Panisch packte Kowalke schnell das zappelnde Ding und hielt es fest in der Hand.

Er spülte noch die letzten Marmeladenreste aus und bugsierte den kleinen Zeh mühsam ins Glas.

Es war der kleine Zeh, nun in der Faust und nicht mehr am Fuss. Ungeschickt wankend auf Grund der fehlenden Gangstabilisatoren bewegte er sich zur Küche und nahm ein Einmachglas aus dem Schrank. Er spülte noch die letzten Marmeladenreste aus, alles mit einer Hand – deshalb mehr schlecht als recht, und bugsierte den kleinen Zeh mühsam ins Glas. Nun lag er da in den Marmeladenresten. Kowalke beäugte ihn misstrauisch und rätselte darüber, wie denn ein entlaufener Zeh am besten zu konservieren sei: im Trockenen, in Formaldehyd oder doch an der frischen Luft?

... dass seine Zehen nun wie kleine weisse Mäuse ohne Schwänze durch die Stadt rennen.

Ein leichtes Schaudern durchfuhr seinen Körper, als er daran dachte, dass seine Zehen nun wie kleine weisse Mäuse ohne Schwänze durch die Stadt rennen und Menschen in Aufregung versetzen mussten. Als er das Glas auf den Küchentisch stellte und das Netz, das er für solche Fälle immer griffbereit hatte, vom Haken an der Wand nahm, tauchte sich die Szene in eine dunkle Wolke und was weiter geschah, konnte uns leider nicht übermittelt werden. Im selben Moment jedoch spazierte am anderen Ende der Stadt ein nackter Zeh über den marmornen Tresen eines edlen Cafés. Während dem erschrockenen Kellner die Milchkanne aus den Händen fiel und die Gäste in höchsten Tönen kreischend das Lokal verliessen, wahren wir Fassung, wohlwissend um Kowalkes missliche Lage. ¤


Carla Peca

lebt in Zürich und studiert dort Kulturanalyse und Germanistik. Wenn sie nicht gerade mit Worten Chaos kreiert, findet man sie zuweilen verstrickt in Ausstellungen zu globalen Verflechtungen.