Seltene Tropen

«Da gönd der d Schüss id Lümpe»(1)

Der Volksmund steht im schlechten Ruf, derbe und obszön daherzureden. An gemeinen Redensarten aus ebendiesem Mund lässt sich aber vorzüglich beobachten, wie kreativ und effizient er sich selbst immer wieder neu zensiert und domestiziert. Ich mag mich erinnern, wie meine Primarlehrerin in einer lockeren Stunde uns Kindern die Methode beibrachte, im Falle eines erhöhten Fluchdruckes den unerwünschten Trieb zu sublimieren und schlimme Wörter, die uns wie «Scheisse» auf der Zunge liegen, in so etwas Lustiges wie «Scheibenkleister» zu transmutieren. Einige Kinder lachten.

Dessen sich all jene bedienen, welche die heiligen Sakramente dann doch lieber nicht verfluchen mögen.

Meine Primarlehrerin hat diese Methode nicht erfunden. Das Gros unserer Flüche ist der allmählich einsetzenden Zensur durch reine Münder zu verdanken. «Gopfertori» oder gar das wunderschöne «Gopfertannewald» haben ihren Ursprung in jenem Fluch, den mir meine Mutter einst als «den schlimmsten aller Flüche» verbot. Ähnlich Blasphemisches versteckt sich hinter dem «Sack Zemänt», dessen sich all jene bedienen, welche die heiligen Sakramente dann doch lieber nicht verfluchen mögen. Und «Himmel-Heilandzack» verbirgt zackig, aber nur halbwegs, an welcher Glocke hier eigentlich gezogen wurde.

Deshalb ziehen in hiesigen, religionsfernen Kreisen Beleidigungen der Mutter besser.

Es ist sicher auch der Abkehr vom rechten Glauben geschuldet, wenn ein blasphemischer Fluch die gewünschte Triebabfuhr bei manchem nicht mehr gewährleisten kann. Deshalb ziehen in hiesigen, religionsfernen Kreisen obszöne Flüche im Bereich der Sexualität oder ach! – Beleidigungen der Mutter besser. Sie gehören jedoch zu den regulären Flüchen und interessieren hier nicht weiter. Stattdessen möchte ich auf eine mögliche Fortsetzung der zensorischen Flüche hinweisen: Es handelt sich hier um Flüche, bei denen niemand so genau sagen kann, was hier eigentlich verflucht wird.

«Schnägg» wird somit zum ultimativen Residuum für alles sexuell irgendwie Aufgeladene.

«Proscht Nägeli» hat womöglich einen plausiblen Ursprung, es ist jedoch kaum jemandem bewusst, wofür «Nägeli» eigentlich steht, und dennoch – oder gerade deswegen löst der Ausruf eine gewisse ironische Befriedigung aus. Ein ähnliches Schicksal wie die, der oder das «Nägeli» hat im Schweizerdeutschen der letzten Jahrzehnte die gemeine Schnecke erlebt. Wenn dich etwas «aaschnägglet», dann lässt sich noch erahnen, dass die Schnecke hier dank ihrer Alliteration zensorisch herbeigerufen wurde. Doch die Schnecke hat eine weitaus gloriosere Karriere hingelegt: «Mach de Schnägg», «Mach kei Schnäggetänz» oder: «Das haut mer de Schnägg vom Teller» sind eindeutig schöne Flüche. In der Wendung «Läck mer am Schnägg» lässt sich argwöhnen, wofür die Schnecke bei all dem eigentlich stehen könnte. Das ausserordentlich Produktive am «Schnägg» oder am «Schnäggli» ist dabei im Umstand begründet, dass er oder es ebenso für das weibliche wie das männliche Geschlechtsteil stehen kann. «Schnägg» wird somit zum ultimativen Residuum für alles sexuell irgendwie Aufgeladene.

Im «Schnägg» hat die moderne Schweiz ihr kollektives Sublimations-Tier gefunden.

Im «Schnägg» hat die moderne Schweiz ihr kollektives Sublimations-Tier gefunden. Das hat seine Gründe. Denn neben den Genitalien steht der «Schnägg» ja auch für die Klimax der Schweizer Währung: den Fünfliber, der im Volksmund ebenfalls «Schnägg» genannt wird. Und damit steigt die Schnecke definitiv zum eigentlichen Platzhalter für die Schweiz als solche auf. In diesem Olymp ist es ihr gelungen, selbst eine der eigentümlichsten Schweizer Exklamationen zu infiltrieren. Statt «Päch für d Schwiiz» sagen heute manche einfach nur: «Päch für d Schnägge». ¤


(1): Aus dem Züri-Slängikon für: «Das ist unglaublich!»


Phillip Auchter

Es ist der Fall, dass Philipp Auchter existiert.