Stellwerkstörungen

Ich bin nicht penibel. Ich mag es einfach aufgeräumt und in all den erbitterten Kämpfen um Struktur habe ich wenigstens gelernt, das chaotische Schlachtfeld schnell zu räumen. Also Rückzug ins Innere meines Schädels. Bestandsaufnahme: Zürich Hauptbahnhof, 19, 11, 2. 19 Grad Celsius Aussentemperatur. 11 Uhr mittags. 2 nackte Füsse in leicht lädierten Turnschuhen. Wieso ich keine Socken trage an diesem Septembermorgen in der S12? Wohl kaum, weil ich keine Spiesserin sein will. Ich trage immer Socken, ich kann dieses Barfussgehen nicht ausstehen. Gestern nach dem Duschen bin ich in meine frisch gewaschenen Socken geschlüpft und eine Stunde später in der Institutsbibliothek gestanden. Zurzeit sind Semesterferien, die Gänge sind verlassen und still.

Aber in der Nacht fällt es einem leicht, die Augen zu verschliessen, selbst wenn man gar nicht schläft.

Gegen 19 Uhr bin ich direkt zu T. gefahren. Dort wollte ich zu Abend essen, aber dann bin ich über Nacht geblieben, und meine Socken auch, nur dass die Socken jetzt immer noch auf T.s völlig zugemülltem Parkett vor sich hingammeln. Es wäre ohnehin inakzeptabel gewesen, die Socken von gestern noch einmal anzuziehen, aber ich habe sie nicht deswegen liegen gelassen. Als sich um 10 Uhr der Wecker von T.s Mitbewohner zu Wort gemeldet hat, da hat meine persönliche Dämmerung schlagartig eingesetzt; ich war fern vom ausgetretenen Weg, auf dem ich mich bisher mit T. bewegt habe. Das war gefährliches Terrain und ich kann nicht sagen, dass mir das nicht bewusst gewesen war gestern Nacht. Aber in der Nacht fällt es einem leicht, die Augen zu verschliessen, selbst wenn man gar nicht schläft.

«Ich gehe, weil ich es nicht ertragen könnte, dass du gehst.»

Punkt 10 Uhr bin ich deswegen aufgesprungen und T. hat mich befremdet angeblinzelt. «Was machst du?», hat T. gefragt und ich habe gedacht: «Ich gehe, weil ich es nicht ertragen könnte, dass du gehst.» Stattdessen habe ich gesagt: «Ich mache uns Kaffee.» Beim Ankleiden habe ich die Socken vergessen, weil mich eine absurde Frage vollkommen absorbiert hat: Wie kann es sein, dass man sich beim Ausziehen weniger nackt fühlt als beim Anziehen? Um 10.07 Uhr bin ich in die Küche gestapft und habe Kaffee aufgesetzt. Wenn ich in Zukunft öfters hier sein sollte, dann braucht T. eine anständige Kaffeemaschine, schoss es mir durch den Kopf und ich fühlte mich augenblicklich ertappt. Beim Kaffee haben wir geschwiegen, vor allem T.

«Wenn ich schon kein Künstler sein kann, dann wenigstens gescheitert.»

Was war meine Hinterlassenschaft als ich um 10.26 Uhr aus T.s Haus stürmte? Eine kalte Kissenkuhle, gefüllt mit fremden Träumen – mit meinen Träumen. Und ein Paar Socken. Zwei Strassen weiter bemerkte ich meine nackten Füsse; ich habe mich umgedreht und bin zurück gegangen bis zur Hausecke. Retrospektiv ist die Lage schwer zu beurteilen und ich bin mir nicht sicher, wieso ich nicht weitergegangen bin. Entweder weil mich plötzlich der Mut verliess, jemals wieder T.s Haus zu betreten oder weil ich einen Grund haben wollte, wenigstens noch einmal dorthin zurückzukehren. Vorsichtig habe ich um die Ecke gelinst: T. hat sich auf der kahlen Treppe vor der Haustür niedergelassen und an einer selbstgedrehten Zigarette gezogen, wahrscheinlich hat er leise vor sich hingesummt. Seine langen Haare hingen ihm ins Gesicht und er sah verloren aus in seinem groben Flanellhemd. Flanellhemden mag ich nicht, denke ich bei mir. Flanellhemden sagen: «Wenn ich schon kein Künstler sein kann, dann wenigstens gescheitert.» Diese Haltung ist typisch Geisteswissenschaftler.

Das Benutzen seiner Bürste war mir zu intim.

Es fällt mir auf, dass ich erstaunlich viel an T. nicht ausstehen kann. Und ich weiss verdammt viel über T. – ich weiss nur nicht, was er dort auf der Treppe neben dem braunen Tontopf vor sich hingesummt hat. Das wäre äusserst relevant. Ich kann in der Spiegelung des Zugfensters erkennen, dass ich meine Haare heute Morgen nicht gebürstet habe, als ich vor T.s Badezimmerspiegel gestanden bin. Das Benutzen seiner Bürste war mir zu intim. Ich kaue auf einer dünnen Haarsträhne rum, ich schmecke Zitrone raus und T.s Kissen, ein fremdes Kissen. Der Duft in meinen Haaren ist das Negativ zur Kuhle in seinem Bettzeug. Langsam lasse ich meinen Blick durch das Zugabteil schweifen. Gegenüber von mir: ein Junge mit trotzigem Gesichtsausdruck.


Heute Morgen hat das leise Klingeln des Telefons die normale Welt gelöscht.

«Wir können dem Tod nicht trotzen», hat uns Herr M. letzte Woche vorgelesen. D. neben mir hat seinen Mund weit aufgerissen und furchtbare Grimassen geschnitten. Ich habe gelacht, dann hat es geklingelt. Es ist Mittwochnachmittag gewesen und Zeit für Fussball mit D., K., S. und L. Heute ist Mittwoch und ich bin nicht in der Schule. D. hat den Mund wohl nicht aufgerissen und ich habe meine Lippen fest zusammengepresst. Als ich aufgewacht bin, ist es dunkel gewesen und vollkommen still. Heute Morgen hat kein Vogel gepfiffen, heute Morgen hat das leise Klingeln des Telefons die normale Welt gelöscht. Als ich gehört habe, dass sie gestorben ist, da spürte ich leise Tränen auf meinen Wangen. Nie mehr den Duft meiner Grossmutter riechen, dachte ich und ich bin aufgestanden und in den Flur getapst und als ich dann gehört habe, dass meine Grossmutter am Telefon ist und meine Tante tot, da habe ich aufgehört zu weinen; es war so, als hätte ich gänzlich aufgehört zu sein.

Dass Mütter auch plötzlich sterben können, war mir bis heute noch nie so deutlich bewusst gewesen.

Ich weiss nicht mehr, wie ich ins Wohnzimmer gekommen bin, aber ich weiss noch sehr wohl, wie ich, kopfüber auf dem Sofa, von unten ins Licht der Stehlampe geblickt habe. Tote Tiere im Lampenschirm. Mütter können vieles, zum Beispiel mit einem sauberen Schnitt das Gehäuse aus einem Apfelschnitz entfernen. Dass Mütter auch plötzlich sterben können, war mir bis heute noch nie so deutlich bewusst gewesen. Irgendwann haben mich meine Eltern aus dem Wohnzimmer gezogen, weg vom Sofa und weg von den zarten Leibern der Insekten, die sich vor dem Licht der Lampe wie Schattenrisse ausnahmen. Schweigend fahre ich mit Mama und Papa zu meinem Onkel und meinen Cousinen. Ich lasse den Blick durch das Zugabteil schweifen. Gegenüber von mir: ein Mann mit Bart und unglücklichen Augen.


Ich habe gedacht, ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden, wenn ich das Aufnahmeverfahren bestehen würde. Berlin ist eine grossartige Stadt, ganz anders als Zürich. Zürich ist klein und schmuck und sauber. Berlin ist nichts davon, Berlin ist nur lebendig. Ausserdem sei Berlin eine einmalige Gelegenheit für meine berufliche und persönliche Weiterentwicklung, höre ich «Menschen mit Erfolg», was so viel wie «mit Festanstellung und gebügelter Krawatte» heisst, sagen. Und mir selbst fällt kein einziges veritables Argument ein, das gegen einen Umzug sprechen würde.

Es wäre ein neues Leben, das Herbstmodell Berlin.

Verdammt glücklich müsste ich nun sein, das ist mir klar. Und als mich Herr W. heute Morgen angerufen hat, da war ich das auch – für mindestens fünf Minuten. Ich hüpfte in albernen Sprüngen und pfeifend die Treppen hinunter, als mir im ersten Stock der Gestank von N.s Dogge in die Nase kroch. Jeden Morgen diesen widerlichen Gestank, habe ich gedacht, den gibt’s in Berlin bestimmt nicht. Ich würde nicht sagen, dass überhaupt ein Mensch diesen Geruch je vermissen könnte, aber mein Leben wäre nicht mehr dasselbe ohne diesen olfaktorischen Horror. Es wäre ein neues Leben, das Herbstmodell Berlin. Aber seither bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich Zürich wirklich an den Nagel hängen will. Ich streiche mir über den Bart und lasse den Blick durch das Zugabteil schweifen. Gegenüber von mir: eine ältere Dame.


Heute bin ich nur noch krank – marode bis ins Mark.

Bösartig, hat er gesagt und ich als ewige Optimistin habe mich vom Leben verhöhnt gefühlt. Ja, Krebs ist heute kein Todesurteil mehr. Aber ich bin noch nie in den USA gewesen. Meine Enkelin wird in einigen Monaten Mutter. B. und ich sind schon seit 48 Jahren verheiratet. 50 ist meine Lieblingszahl. Ich wünsche es mir, dieses Jubiläum. Ich weiss nicht, wie ich es B. sagen soll. Meine Worte sind aufgebraucht, ausverkauft – Mangelware. Vor 48 Jahren habe ich B. gefragt, ob er mich heiraten wolle. Dort war ich eine stolze Frau und eine Feministin gewesen. Heute bin ich nur noch krank – marode bis ins Mark. Ich balle meine beiden Fäuste und stosse dabei meine Handtasche an. Das ist also diese Schwerkraft.


Zu viel Nähe morgens um 11 Uhr in der S12.

Cremetiegel, Schlüssel, Geldbörse und Taschentücher liegen wie in einem Stilleben arrangiert auf dem fleckigen Boden der S-Bahn. Dann geht ein Bücken und Rücken durch das Abteil. Alle helfen mit und für einen Augenblick sind die vier Menschen, die sich nie wieder sehen werden, eine kleine Gemeinschaft. Sie stellen die Ruhe wieder her und nach getaner Arbeit wenden sie sich beschämt ab. Zu viel Nähe morgens um 11 Uhr in der S12. Alle kehren zurück in ihre angestammte Sitzposition und die Welt ist wieder in Ordnung. Langsam rollt der Zug an. Keine Stellwerkstörung heute. ¤


Jana Bersorger

studiert zur Zeit Germanistik, Philosophie und Mittellatein (sic!). Sie mag den Geruch neuer Bücher und schreibt gerne alles Mögliche: Einkaufszettel, Pro-und-Contra-Listen, Gedichte etc.