Über diese Ausgabe

Die enge Verknüpfung von Chaos und künstlerischer Produktivität ist ein bekannter literarischer Topos. In seiner eindrucksvollen Künstlernovelle «Das unbekannte Meisterwerk» (1832) hat Honoré de Balzac das Atelier als Ort der Unordnung gezeichnet: Zahllose Skizzen und Übungsblätter zieren die Wände bis zur Decke, während Farbdosen, Weinflaschen und umgeworfene Staffeleien nur einen schmalen Weg durch die Chaoslandschaft freilassen.

Unablässig übermalt er sein Gemälde mit dicken Farbschichten, bis seine Freunde nichts mehr erkennen als ein wirres Durcheinander.

Inmitten dieser Unordnung versucht Frenhofer, ein gealterter Maler, die lebendige Natur in der Malerei nachzubilden – eine Vision, die schon bald in Tyrannei umschlägt: Unablässig übermalt er sein Gemälde mit dicken Farbschichten, bis seine Freunde nichts mehr erkennen als ein wirres Durcheinander, einen formlosen Nebel, ein «Chaos von Farben, Tönen, unklaren Nuancen», das Frenhofers vermeintliches Meisterwerk fortan umhüllt; dabei ist man verlockt, das gestaltlose Chaos als Vorbote der abstrakten Kunst zu lesen.

Dass das künstlerische Chaos einen augenfälligen Kontrast zur heutigen Überformung und Geordnetheit der Körper bildet, wie sie sich beispielsweise in den glänzenden und glatten Skulpturen von Jeff Koons artikuliert, stellt der Essay zum Unbehagen an der Ordnung deutlich heraus.

Wo die gesellschaftliche Ordnung ein Unbehagen auslöst, beschäftigt sich der zweite Aufsatz ausgehend von Giambattista Vicos poetischer Metaphysik mit der berechtigten Frage, wie wir das grundlegende Chaos unserer Existenz überhaupt ertragen können.

Das ambivalente Verhältnis von Ordnung und Chaos ist auch Thema der hier versammelten Gedichte.

Das ambivalente Verhältnis von Ordnung und Chaos ist auch Thema der hier versammelten Gedichte, die vieldeutige Bilder der Unordnung auffächern; gleichwohl sind sie bis in alle Einzelheiten konstruiert und organisiert. (Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür bietet das zweistrophige Anagramm.)

Die Prosabeiträge dieser Ausgabe umkreisen das Chaos im Kleinen ebenso wie im Grossen.

Die Prosabeiträge dieser Ausgabe umkreisen das Chaos im Kleinen ebenso wie im Grossen: Während eine ganze Welt verheissungsvoll in Schieflage gerät, kann Kowalke kaum mehr gerade gehen – wie auch, ohne Zehen? Über die scheinheilige Welt auf dem Markt in Oerlikon (ich kenne sie aus eigener Erfahrung nur zu gut) bricht plötzlich das Chaos herein, als sich ein Polizist mit erhobenem Maschinengewehr vor einem Coiffeursalon positioniert, aus dessen Schaufenster eine Pinguinfamilie aus bepinseltem Karton blickt. Fraglich bleibt, ob wir uns am Ende nicht selbst im Bild der unbeweglichen Pappfiguren wiederfinden.

Derweil feuchtet in der Waschküche von Ninas Wohnhaus eine unbefugte Wäsche vor sich hin: Es wird eine Klage über das Chaos im einstigen Schlachtraum erhoben und während sich das Haus selbst vor lauter schlechter Luft langsam anhebt, wartet man nur, bis jemand Nina verleumdet, ohne dass sie etwas Böses getan hätte.

Wo sich das Chaos an einem nassen Kleiderknäuel manifestiert, wird ein Paar Socken zum Inbegriff der Unordnung; zwar gibt es keine Stellwerkstörungen zu beklagen, dafür gammeln auf dem zugemüllten Parkett von T. zwei verlorene Socken als einzige Hinterlassenschaft der überaus peniblen Ich-Erzählerin.

Ich verabschiede mich von meiner liebsten Chaos-Truppe in eine neue Zeit.

Soviel also auch zu meiner Hinterlassenschaft: Ich verabschiede mich von meiner liebsten Chaos-Truppe in eine neue Zeit und tripple auf leisen Füssen über die Strasse, in einen formlosen Nebel, wo ich wild vor mich her bleistifteln und gfätterlen werde.

Eure

Sarah Möller