Nur ein kurzer Fahrradweg durch die Stadt

Der Stoff ihrer Jeans vollkommen nass durchtränkt radelt sie durch die Strassenschluchten. Ein Mann sitzt auf dem schwarzen Rollator, wartend.
Die glasig-grauen Augen starren in die Leere, müder Blick. Er hat schon viel gesehen. Regen macht ihm nichts aus, sein Béret trägt er stolz mit leicht gebeugter Haltung. Da kommt der Bus mit seinen sich automatisch öffnenden Türen. Niemand hilft ihm, als er einsteigen will. 

«Scratching the surface als eine Metapher unserer skurrilen Zeit.»

Der Sattel ist nass, das dunkle Kunstleder aufgequollen, ein paar dünne Risse bewirken schon, dass der ganze Schaumstoff vor Nässe trieft. Leise Spuren der Verwüstung, eine nicht intakte Oberfläche. Scratching the surface als eine Metapher unserer skurrilen Zeit. Sie fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt, ein kalter Wind bläst ihr entgegen. An den Autos schlängelt sie sich vorbei, an den rot leuchtenden Gefährten mit leise heulenden Motoren, lautlos qualmend aus dem Auspuff. Subtiles Gasaustreten in die Atmosphäre, klammheimlichstille Luftverschmutzung; das Andocken von Kohlenstoffdioxidmolekülen ist ein Prozess ohne Lärm. Hört und sieht man es nicht, existiert es auch nicht. Hier, unter dem Deckmantel des Lächelns. Wenn es regnet, trauen sich die Leute mit kleinen Schirmen nicht auf die Strasse. Lieber im Stau stecken, als sich der Säure des ätzenden Regens auszusetzen. Raue Hände umklammern die gummierte Fassung des Fahrradlenkers. Ein Organ, der Witterung ausgesetzt, aber es ist ihr egal.
Wave, Hairdesign und dann eine Coiffiteria. Eine Mischung aus Edelfriseur und Bar-Schrägstrich-Café. Stundenlang geglättete Haare werden draussen innerhalb von fünf Minuten kraus. Viel Zeit investiert in nichts.
Ein Mädchen springt in die sich bildenden dreckigen Wasserlachen. «Stopp jetzt», sagt die Mama, die sich vehement gegen das Helikopterpräfix wehrt, «sonst werden deine Strumpfhosen fleckig.» An der Hand gezerrt, dem Gleichschritt angepasst.
For a brighter future steht auf dem Plakat. Endzeitstimmung kommt vor allem im düsteren Cyberpunk-Genre für Post-Millennial-Jugendliche vor, sonst wird sie gekonnt den raren Verschwörungstheoretiker*innen zugeschrieben. Ab und zu eine kleine Pandemie, um die Angst vor Biowaffen real zu halten. Da sind sie wieder, die Chemtrails. Versteckt euch in dem unterirdischen Bunkerlabyrinth der Schweiz, ein Paradies für Überlebenskünstler*innen.

«Hört und sieht man es nicht, existiert es auch nicht.»

Sie schreien sich an. Können wir bitte von etwas anderem reden als über abgewiesene Flüchtlinge, die sich mit ihren schmerzverzerrten Gesichtern in Frachtschiffen mit Aufschriften wie Esperanza über den Ozean gehangelt haben? Die im bedrohlichen Salzwasser ihre Gefühle ertränken? Die bestenfalls mit ihrem Körper, aber nicht mit ihrer Identität das schwankende Festland erreichen? Da sind doch noch Studierende, die sich mit der Gender-Thematik in acht Semestern beschäftigen, Sternchen* schreiben, Zeichen setzen(?), Reste ihres Buckwheat Cranberry Salad aus einem recycelten Glas verzehren. Jetzt im Regen stehen, aber nicht wirklich, weil sie in dunklen Nächten in ihren kuschligen Betten liegen.
Etwas weiter mit dem Fahrrad, die Bremsen fest im Griff, die Stiefel sicher in die Pedalen gedrückt. Die Tramgleise sind jetzt sehr rutschig. Schnell ist der Reifen in die Einbuchtung gerutscht und man fliegt auf die asphaltierte Strasse. Es muss nicht spektakulär aussehen, mit dem Kopf an die Bordsteinkante zu schlagen und sich die Schädeldecke zu zertrümmern. Und schon ist das Gehirn an den Knochen geprallt, innere Blutungen überschwemmen das Fettgewebe, Liquor klebt am menschlichen Kalk. Das Ego fliesst aus dem Leib. Verlässt ihn wie die Seele die Hülle in Richtung Himmelspforte. Dasjenige Körperteil, welches den Menschen als Menschen definiert – weg. Selbstzuschreibung, das Gefühl eines Bewusstseins – weg.
Aber sie gibt acht, hält beim Fussgängerstreifen kurz an und radelt sicher weiter. Die Kappe tief ins Gesicht gezogen, aber gerade noch so, dass sie sehen kann, was sie sehen muss. 

 


Rahel Baer
ist 25-jährig, Deutsch- und Geschichtsstudentin in Basel. Antwortsuchend, neugierig auf das Leben und das Danach mit allen Ecken, Kanten, Facetten.
Auch noch: Pilatesinstruktorin, Part-Time-Barista mit mittelmässiger Latte Art zur Bestreitung eines rudimentären Lebensunterhalts, Deutschlehrperson, Menschen- und Selbstbeobachterin.