Susanna im Bade

«Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und sie wandten ihre Augen davon ab, zum Himmel zu schauen und an die gerechten Strafen zu denken» (Daniel 13, 9).

Merkwürdig sperrig und gleichzeitig hoch vertraut – wie vieles, was uns Gegenwartsmenschen aus dem Alten Testament entgegenschaut – ist die Geschichte von Susanna im Bade, ein später Zusatz im alttestamentarischen Buch Daniel, der wohl der hellenistischen Zeit zuzurechnen ist.

Susanna, die schöne und gottesfürchtige Frau von Jojakim, geht mittags allein im Garten ihres Mannes spazieren, um dort in einer Quelle zu baden, und wird dabei von zwei ihr auflauernden Ältesten der jüdischen Gemeinde erpresst: Entweder sie füge sich ihnen und willige in eine Vergewaltigung ein oder sie werde des Ehebruchs bezichtigt. Susanna wählt Letzteres, wird vor ihrer gesamten Gemeinde am nächsten Tag wegen Ehebruchs angeklagt und anschliessend zum Tode verurteilt. Sie selbst flüchtet sich in ihre einzige Handlungsmöglichkeit, das Gebet. «Der Herr erhörte ihr Rufen» (Daniel 13, 44), heisst es im Text. Als man sie zur Hinrichtung führt, stoppt ein junger Mann–Daniel–den Prozess: «Seid ihr so töricht, ihr Söhne Israels? Ohne Verhör und ohne Prüfung der Beweise habt ihr eine Tochter Israels verurteilt» (Daniel 13, 48). Daniel fordert die Rückkehr zum Gericht und die getrennte Befragung der beiden Ältesten und tatsächlich gelingt es ihm, den Betrug der beiden nachzuweisen. Auf die Frage, unter welchem Baum sie denn Susanna mit dem Fremden gesehen hätten, gibt der eine an, Susanna habe den Ehebruch unter einer Zeder begangen, der andere, es sei unter einer Eiche gewesen. Der Blick der beiden Ältesten in den Garten wird nicht zum Todesurteil für Susanna, sondern zu demjenigen für die Ältesten.

Im Kontext des Alten Testaments ist die Geschichte der Gefährdung und Rettung Susannas wohl primär als Beweis für die Gerechtigkeit und allgegenwärtige Herrschaft Gottes und die von Gott geschenkte Weisheit des Propheten Daniels zu lesen. Für die Rechtsgeschichte und Kriminologie ist es ein frühester Beleg für die Methode der getrennten Zeugenaussage. In unser kulturelles Gedächtnis ist die Erzählung aber als eine Geschichte verbotener Blicke und verhängnisvoller vermeintlicher Abgeschiedenheit eingegangen. Während die Blicke der Männer sich auf die Frau im Garten richten, lässt Susanna ihre Dienerinnen die Gartenpforten schliessen und schickt sie anschliessend weg, um Privatheit und Diskretion sicherzustellen. Erst diese örtliche und situative Verdunkelung und Intimität machen die Blicke zu verboten-voyeuristischen Blicken[1] und schaffen Raum für Phantasie und Lüge, die zur Basis der verhängnisvollen Anklage werden.

Die Erzählung, so bildhaft, wie sie sich vor der Leserschaft entfaltet, gehört von der Renaissance an bis in die Moderne zu den meistgemalten Szenen der abendländischen Kunstgeschichte, unter anderem von den Malern Tintoretto, Gentileschi, Rubens, van Dyck, Rembrandt und Lovis Corinth. Als Motiv für die Darstellung wird in der Regel aber nicht der Held Daniel oder die Gerichts- und Verbrennungsszene gewählt, sondern gerade das, was die Erzählung mit einem kurzen Satz überspringt und geschickt auslässt: Der Moment des Voyeurismus, der Blick der beiden Ältesten auf den schönen Frauenkörper. Hinzu kommt in den Bildern noch eine weitere Dimension: Nicht nur die beiden alten Männer sind Akteure, auch der Betrachter wird hineingezogen und blickt gleichermassen mit auf die badende Susanna – Licht- und Schattenspiel werden dabei häufig von den Malern so gelenkt, dass der Blick des Betrachters oder der Betrachterin sich ganz auf das Objekt «Susanna» konzentriert, während die Ältesten in der Dunkelheit ihrer Umgebung verschwinden.

Ist dem Text die Warnung vor Schaulust und verführerischer Schönheit der Frau eingeschrieben, macht die bildende Kunst aus der Erzählung das Gegenteil und lädt zum Schauen ein: Mal wird Susanna ahnungslos, selbstvergessen dargestellt, mal sich ängstlich vor den Ältesten in Gewändern verhüllend, mal schaut sie zu den Ältesten hin, mal zum Bildbetrachter oder zur Bildbetrachterin. Stets bleibt aber das Dreieck der Blicke: Opfer, (voyeuristischer) Täter und mitschauende Betrachter*innen. Der Garten wird zu einer ambiguen Szenerie zwischen Idylle und Gefahr, Verborgenheit und Zurschaustellung.

Die Geschichte der ehrbaren Susanna wird so zu einem Archetyp von Voyeurismus und Tabubruch in der Kunst.

Die Geschichte der ehrbaren Susanna wird so zu einem Archetyp von Voyeurismus und Tabubruch in der Kunst: Während bildintern ein verbotener Blick, nämlich derjenige der Ältesten auf Susanna, thematisiert wird, entsteht in der medialen Präsentation des Bildes der vom Künstler erstrebte Blick der Betrachter*innen. Bildinterner und bildexterner Blick sind einander qualitativ nicht gleichzusetzen. Während die Ältesten tatsächlich eine ahnungslose Frau betrachten und real den Tabubruch begehen, begegnen die Betrachter*innen des Bildes hingegen nur einer Vorspiegelung durch die Kunst. Dennoch sind die Blicke nicht einwandfrei voneinander zu trennen. Auch der Blick der Betrachter*innen (oder gar des Malers selbst) steht im Zwielicht. So wurde in der feministischen Forschung wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass auch Künstler und Betrachter*innen einen (anonymen) Blick auf den objektivierten Frauenkörper beanspruchen und so «eine gewaltsame Kolonialisierung des weiblichen Körpers vollziehen»[2]. Einen (unschuldigen Blick) gibt es demnach nicht und Zuflucht zur Zensur und Gezeter über Zensur sind bis heute die ständigen Begleiter künstlerischen Schaffens[3]. Dass dabei die Kunst um die Problematik des male gaze weiss und sie die Konstellation aus männlichem Voyeur und weiblichem Objekt längst nicht immer eindimensional reproduziert, zeigt unter anderem Kleists kurzer Dialog in Versen «Der Schrecken im Bade. Eine Idylle». Dort wird das Mädchen Margaret beim heimlichen nächtlichen Bad von der Magd Johanna überrascht; diese, neidisch auf die Abkühlung, die sich Margaret gönnt, gibt sich nicht als Magd zu erkennen, sondern täuscht «in Fritzens Röcken» mit verstellter Stimme vor, ein männlicher Voyeur, nämlich Margarets Verlobter Fritz, zu sein.

Johanna

Wie schön die Nacht ist! Wie die Landschaft rings
Im milden Schein des Mondes still erglänzt!
Wie sich der Alpen Gipfel umgekehrt,
In den krystallnen See danieder tauchen!
Wenn das die Gletscher tun, ihr guten Götter,
Was soll der arme herzdurchglühte Mensch?
Ach! Wenn es nur die Sitte mir erlaubte,
Vom Ufer sänk’ ich selbst herab, und wälzte,
Wollüstig, wie ein Hecht, mich in der Flut!
[…]

Margarethe
Fritz!

Johanna
Was begehrt mein Schatz?

Margarethe
Abscheulicher!

Johanna
O Himmel, wie die Ente taucht! O seht doch,
Wie das Gewässer heftig, mit Gestrudel,
Sich über ihren Kopf zusammenschließt!
Nichts, als das Haar, vom seidnen Band umwunden,
Schwimmt, mit den Spitzen glänzend, oben hin!
In Halle sah’ ich drei Halloren tauchen,
Doch das ist nichts, seit ich die Ratz’ erblickt!
Ei, Mädel! Du erstickst ja! Margarethe!

Margarethe
Hilf! Rette! Gott mein Vater!

(Kleist: Der Schrecken im Bade, V. 16–69)

Anders als die biblische Erzählung von Susanna im Bade endet Kleists Dialog nicht in einem Gewaltakt. Vielmehr erweisen sich Voyeurismus und Tabubruch nur als vorgespielt und lösen sich im Lachen über den Schrecken in eine «echte» Idylle auf, wenn Margaret realisiert, dass in Wahrheit Johanna die unerlaubte Beobachterin war. Der kurze Text wurde in der Forschung immer wieder kontrovers diskutiert, gerade weil er mit der bekannten Konstellation in unerwarteter Weise umgeht, dem Gewaltakt des Voyeurismus die Untertitelung Idylle entgegenstellt und mit der Geschlechterhierarchie in verdrehter Weise bricht. Margarets ausgesprochene und noch vielmehr unausgesprochene Empfindungen, Johannas (neidische) Blicke und die subtile Erotik, welche den Dialog durchzieht, sind in der Vergangenheit jeweils sehr unterschiedlich bewertet und ausgelegt worden. Ist Margarets Bad als Sittenverstoss zu werten? Ist der Blick von Johanna auf Margaret ein «verbotener» Blick? Wieviel Gefallen und Zurschaustellung liegen in Margarets Handlungen und Antworten?

Was für Kleists Versdialog aber ebenso gilt wie für die Bildtradition der Susanna im Bade, ist die ausführliche Schilderung («Ausmalung») des Objekts «Susanna», bei dem auch wieder die Leser*innen – zusammen mit Johanna – zu Zuschauer*innen werden.

Ein letztes Bild: Der ungarische Gegenwartskünstler Moran Haynal, der in seiner Bildsprache Elemente der Pop-Art mit traditioneller jüdischer Kalligraphie vereint, wählt erneut das Motiv der alttestamentarischen Susanna. Allerdings inszeniert er sie, anders als die vorgestellte jahrhundertealte Bildtradition, nicht im Garten als Opfer männlicher Blicke, sondern malt sie als Portrait–ein Zwillingsbild seines Portraits der alttestamentarischen, listigen Judith. Die Konstellation, welche das Motiv «Susanna» zu einer Szene des Voyeurismus macht–der verbotene Blick der beiden Ältesten und das Spiel von Verborgenheit und Zurschaustellung – ist aufgehoben. Was bleibt, ist Susannas Blick, direkt und trotzig auf die Bildbetrachter*innen, der uns zurückfragt, wie wir in der Kunst Tabubrüche und verbotene Blicke bewerten, verlangen oder verurteilen. Das Rauschen von Texten und Bildern in der Figur von Susanna hat Moran Haynal dem Bild wortwörtlich eingeschrieben.

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[1] Zum Begriff des Voyeurismus in der Literatur vgl. Ulrich Stadler/ Karl Wagner (Hgg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in der Literatur. München 2015.

[2] Öhlschläger 1996, S. 18. Ausführliche Arbeiten zu dieser Diskussion sind Claudia Öhlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstrukzion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg 1996, sowie John Berger: Ways Of Seeing. London 1972.

[3] Vgl. Rossbach 2018, S. 9. Vgl. Nikola Rossbach: Achtung Zensur! Über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen. Berlin 2018.

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Primärliteratur:

Die Bibel. Einheitsübersetzung der heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Freiburg i. Br. 2016.

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Frankfurt a. M. 1990.

Sekundärliteratur:

Claudia Öhlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg 1996.

John Berger: Ways Of Seeing. London 1972.

Nikola Rossbach: Achtung Zensur. Über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen. Berlin 2018.

Ulrich Stadler/ Karl Wagner (Hgg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in der Literatur. München 2015.

 


Ursina Füglister

studiert im letzten Semester Germanistik und Klassische Philologie. Sie gräbt gerne Vergangenheit aus und träumt Zukunft.